Tausende von Büchern in meinem Bücherschrank - aber manche lohnen sich, einfach noch einmal gelesen zu werden. Jeden Tag ein neuer Vorschlag für ungewöhnliche Lesestunden - Ein wildes Sammelsurium des geschriebenen Wortes.
Dieses mal ein Fantasy-Buch von 1989 (Deutschland: 1991):

Terry Pratchett: Wachen! Wachen! (Orig.: Guards! Guards!)


Meine Wertung: Wertung: 5 von 5 Sternen



Ein Buch von Terry Pratchett einem SF- oder besser Fantasy-Fan zu empfehlen, ist Eulen nach Athen tragen. Doch auch der lesenden Allgemeinheit ist Sir Pratchett inzwischen kein Unbekannter mehr, neben J.K. Rowling sicherlich der bekannteste Vertreter der Fantasy. In England sind seine Bücher regelmäßig ganz oben in der Bestsellerliste der Times zu finden, Interviews mit ihm in der BBC wurden immer zur Prime-Time gesendet.
Viele reduzieren seine Geschichten auf die "Scheibenweltromane", bei denen die Handlung auf einer Scheibenwelt spielt, getragen von vier gigantischen Elefanten, auf dem Rücken einer riesiegen Schildkröte. Deren Zeit ähnelt unserem Mittelalter, angereichert mit Magie (sehr unzuverlässig), den Göttern (teils üble Gesellen), Gevatter Tod (mit Sinnkrise) und allerlei anderen Spielereien. Neben diesem Hauptwerk hat Pratchett, dessen tragische Alzheimer-Erkrankung er selbst öffentlich gemacht hat, verschiedene andere Romane geschrieben, aus denen besonders auch seine Kinder&Jugendbücher herausragen, und von denen jedes eine eigene Erwähnung verdient hätte.
Seine Scheibenweltromane sind Allegorien auf unsere Zeit und unsere Gesellschaft. Jeder Roman hat einen Aufhänger, an dem eine witzige und skurile Handlung festgemacht werden. Ob die Erfindung der Briefbeförderung ("Ab die Post") oder die Musikindustrie ("Rollende Steine") - alle seine Bücher folgen einem ähnlichen Prinzip: Man versetze eine Idee oder eine existierende Sache in eine skurile, mittelalterliche Welt, bevölkere sie mit real handelnden Menschen, und schaue einfach mal, was für ein Wahnsinn passiert.
Die Menschen in seinen Romanen sind Universalien. Pratchetts Credo ist: Die Zeiten ändern sich, die Menschen sind und waren immer gleich (Nicht die Gesellschaft formt den Menschen, nein, der Mensch formt in fieser Weise die Gesellschaft)
Wo sich viele seiner Romane mit Handlungen rund um die Magie beschäftigen, (die Farben der Magie), handeln die "Stadtwache-Geschichten" von einer skurilen Truppe von illusionslosen, abgehalfterten Nacht-Wächtern, von niemandem geliebt, dem Herrscher der Stadt Ankh-Morpork im Weg, ohne Macht oder Einfluss.
Der erste Roman einer ganzen Reihe von Büchern um diese Männer (später auch Frauen und Werwölfe, Trolle, Zwerge etc) und deren Hauptmann ist mein Pratchett-Lieblingsroman. Es zeigt, warum Pratchett in den angelsächsischen Ländern als zweiter Charles Dickens gilt, als ganz Großer des Gesellschaftsromans. Denn die Handlung rund um die Wache, die den Fall eines auftauchenden feuerspeienden Drachens zu klären hat, einer Revolution gegen den Herrscher der Stadt (und der Installation eines Neuen) sowie dutzender witziger Handlungsstränge, ist in Wirklichkeit eine Beschreibung von Menschentypen und ein politisches Statement.
Wie jeder Roman eines Autor letztlich eine Behauptung darstellt, gibt Pratchett hier seine (gesellschaftspolitische) Überzeugung zu erkennen. Er wendet sich gegen die Regierung der Überzeugten, Guten, Gerechten (mag man Sie als "Moralische Mehrheit", als "gottesfürchtige Revolution" oder als neuer "Mensch in neuer Gesellschaft" übersetzen), die auf Dauer mehr Unheil anrichtet als Gutes schafft. Die wirklich überzeugten Guten sind humorlos, anstrengend und treffen letztlich die falschen Entscheidungen für die Menschen (man spreche mal wahlweise mit einem fanatischen Abtreibungsgegner, Ökoagitatoren oder Feministen). Pratchett läßt seine Überzeugung durch den Herrscher der Stadt, den Patrizier, in einem langen Monolog aussprechen:
"Nun, die Guten verstehen sich darauf, die Bösen zu überwältigen und Ihnen das Handwerk zu legen. Ja, darin sind die Guten wirklich gut, zugegeben. Das Problem besteht darin, dass sie keine anderen nennenswerten Fähigkeiten haben. Am einen Tag feiern sie den Sturz des Tyrannen, am nächsten sitzen sie herum und beklagen sich, dass seit dem Sturz des Tyrannen niemand mehr den Müll wegbringt. Der Grund: Die Bösen können planen, das ist eines ihrer Wesensmerkmale. (...)
Vermutlich hälst Du das Leben deshalb für so problematisch, weil du glaubst, dass die guten Menschen auf der einen Seite stehen und die schlechten auf der anderen. Solche Vorstellungen sind natürlich völlig verkehrt. Es gab und gibt immer nur die Bösen, aber einige von Ihnen gehören zu unterschiedlichen Lagern"

Denn das Wichtigste, was für den gestürzten Patrizier spricht, und den Hauptmann der Wache zähneknirschend dazu bringt, ihm zu helfen, trotz dessen zynischer Weltsicht, ist seine Fähigkeit, der chaotischen Stadt Ank-Morpork Regeln zu geben. Eine Art Recht. Keine Gerechtigkeit.
Aber das reicht aus, dass die Menschen überhaupt ein Zusammenleben entwickeln können, mögen den Regeln im Einzelnen auch noch so obskur und ungerecht sein. Es sind immerhin irgendwelche Regeln.
Hier haben sich 3000 Jahre politischer Politikgeschichte versammelt, die Idee des Gesellschaftsvertrages gleichermaßen wie die Begründung des Rechts im allgemeinen. Letzlich unser westlicher, freiheitlicher Gesellschaftsentwurf.
Doch keine Angst: Man kann diesen Kontext klesen, muss es aber nicht. Denn auch so ist die (witzige) Geschichte und die Handlung jede Seite wert. Ein echter Dickens des 21. Jahrhunderts.
Der Beitrag wurde am Dienstag, 1. Februar 2011 veröffentlicht und wurde unter dem Topic 100 Buecher abgelegt.
'100 Books ~ Tag 4: Terry Pratchett - Wachen! Wachen!'

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