Jede Kalorie zählt
von Klaus Marion.
Veröffentlicht in VorSicht 3/2016
Gewichtszunahme war eigentlich niemals ein Thema für mich. Wie wenig oder wie viel ich zu mir nahm, schien meinen Körper lange Zeit nicht weiter zu interessieren. Jahrelang zeigte die in großen Abständen konsultierte Badezimmerwaage immer das gleiche, akzeptable Gewicht.
Umso überraschter war ich, als ich dann irgendwann feststellen musste, dass meine Anatomie von diesem statischen Zustand in eine Form der Vorratshaltung überging, der sich in einem deutlichen Bauchansatz manifestierte.
Ich betrachtete das zwar als eine positive Form der nachhaltigen Ressourcenausnutzung, zum Jahresende wurde mir aber klar, dass ich der Sache energisch Einhalt gebieten musste.
"Acht Kilo müssen wieder weg" erläuterte ich meiner Frau mein Jahresanfangsprojekt. Diese betrachtete mich vorsichtig. "Und wie willst Du das machen?"
"Nun, ich werde nur minimal essen. Einmal am Tag. Salat oder so. Und viel Sport. Nach meinen Berechnungen habe ich die Sache dann in 8 Wochen erledigt."
Auf den dezenten Einwurf meiner Frau hin, dass dies nicht so einfach sei, konnte ich sie beruhigen.
"Es ist eigentlich eine Frage des Willens. Ich sage meinem Körper: Es gibt nichts, und dann gibt es nichts. Ich habe das selbstverständlich im Griff!"
Es ist eigentlich eine Frage des Intellekts und der geistigen Strenge, wie ich mir selbst versicherte. Daher würde ich hier keine Probleme haben.
Pünktlich zum Wochenbeginn begann ich mit mein Projekt: Minimale Mengen. Keine Knabbereien. Keine Kalorien.
Es war hart. Sehr hart. Geradezu brutal. Es ist erstaunlich, welche Überredungskunst der menschliche Körper aufbringen kann, wenn es darum geht, den archaischen Zustand des Hungers durch Essensgelüste zu durchbrechen. Ein geradezu animalisches Verlangen nach Hamburgern und Currywurst überkam mich. Unter Aufbietung all meiner Willenskraft gelang es mir jedoch, diese unerbittliche Aufwallung der Gefühle niederzukämpfen. "Ich-habe-das-Kommando" zischte ich meinem Körper unter zusammengebissenen Zähnen zu.
Und dabei war es erst der Nachmittag des ersten Tages.
Meiner Frau erläuterte ich souverän, dass alles nach Plan lief:
"Alles perfekt. Ich nehme noch ein Salatblatt!"
Es waren harte Tage.
Am Ende der zweiten Woche hatte ich einen Termin bei meinem Versicherungsvertreter. Eine Durchsicht meiner Unterlagen hatte in mir den Verdacht wachsen lassen, dass die Rettung der Versicherungsindustrie offensichtlich allein durch meine Beiträge gewährleistet werden sollte. Hier waren harte Verhandlungen auf Augenhöhe zur Kostenreduzierung angesagt. Unter anfeuernden Rufen meiner Frau fuhr ich zu der Unterredung.
Dem an seinem Schreibtisch sitzenden Versicherer erläuterte ich die Sachlage und verwies auf die allgemein schlechte weltwirtschaftliche Finanzlage, die eine starke häusliche Kostenreduzierung bei den Ausgaben unumgänglich mache. Mein geübt fester Verhandlungsblick in die Augen meines Gegenübers wurde jedoch ein wenig durch das Schälchen mit kleinen Gummibärchenbeuteln auf dem Schreibtisch abgelenkt.
"Ich muss also darauf bestehen, dass wir hier eine Lösung zur Reduzierung meiner Versicherungszahlungen finden. Sonst kann ich keinen Bär, äh Gewähr übernehmen, dass ich nicht… Was wollte ich noch einmal sagen?"
"Möchten Sie ein Tütchen von unseren Werbe-Gummibärchen?" Der Mann blickte mich freundlich fragend an.
Nun, etwas schnelle Energiezufuhr konnte bei so einem Verhandlungsgespräch nicht schaden. Ich öffnete das kleine Tütchen und schob die weiche Zuckermasse in meinen Mund.
Ein verzücktes Lächeln manifestierte sich auf meinem Gesicht. Welch ein Genuss nach 14 tägiger Kalorien- und Zuckerabstinenz! Selten hatte ich so etwas Leckeres zu mir genommen. Eine Geschmacksexplosion! Ich schüttete mir die restliche Tüte in den Mund und blickte fiebernd zu der verheißungsvoll gefüllten Schale. "Greifen Sie ruhig zu! Sie nehmen gerade ab, stimmt's? Kenn' ich. Da sind die besonders lecker!"
Ich öffnete zwei weitere Tütchen und schob mir den Inhalt wie verzweifelt in den Mund. Was für eine Wonne! Reiner Zucker verströmte seine kalorienhaltige Energie in meinen Körper. Die Welt wurde klarer, die Farben intensiver. Die Vögel begannen lieblich zu singen.
"Kschann isch etwasch Schcola hahen?" Meine Aussprache verschob sich ins klebrige.
"Aber klar doch. Frau Sänger, bringen Sie doch etwas Cola für unseren Gast? Haben wir noch die Donuts vom Frühstück übrig?"
Ich nickte heftig zustimmend mit dem Kopf.
"Wissen Sie was? Ich erzähle Ihnen etwas über die wirklich ernsten Versicherungslücken in Ihren Verträgen, und Sie nehmen einfach noch ein Kaffeeteilchen aus der Küche!"
Jetzt hatten wir für unsere Vertragsverhandlungen den richtigen Ansatz gefunden.
Nach Abschluss einer zusätzlichen Versicherung zum Schutz gegen allgemeine Naturkatastrophen (mit Sonderklausel zu Hungersnöten), konnten wir uns im weiteren Gespräch auf zwei zusätzliche Hausratsversicherungen (Streuselkuchen), eine neue Lebensversicherung (Marzipantörtchen) sowie zusätzliche Absicherung von Krankheitsrisiken bei Übergewicht und Zuckerkrankheit (Congnac als Digestif) verständigen.
Bei einem kleinen Imbiss im nahegelegenen Kaffee war der Abschluss diverser Schutzbriefe sowie eine Erhöhung des allgemeinen Hausratsversicherungsschutzes bei Befall durch Bantu-Wüstenkäfer und Zikaden nur eine Formalität.
Glückselig wankte ich nach Hause.
Meine Frau wollte wissen, warum sich unsere Versicherungszahlungen jetzt im Monat verdoppelt hätten.
Ich erklärte ihr, dass wäre eine Folge der EU-Krise und Frau Merkels Schuld.
Und mit meiner Diät wäre ich ebenfalls fertig.
von Klaus Marion.
Veröffentlicht in VorSicht 3/2016
Gewichtszunahme war eigentlich niemals ein Thema für mich. Wie wenig oder wie viel ich zu mir nahm, schien meinen Körper lange Zeit nicht weiter zu interessieren. Jahrelang zeigte die in großen Abständen konsultierte Badezimmerwaage immer das gleiche, akzeptable Gewicht.
Umso überraschter war ich, als ich dann irgendwann feststellen musste, dass meine Anatomie von diesem statischen Zustand in eine Form der Vorratshaltung überging, der sich in einem deutlichen Bauchansatz manifestierte.
Ich betrachtete das zwar als eine positive Form der nachhaltigen Ressourcenausnutzung, zum Jahresende wurde mir aber klar, dass ich der Sache energisch Einhalt gebieten musste.
"Acht Kilo müssen wieder weg" erläuterte ich meiner Frau mein Jahresanfangsprojekt. Diese betrachtete mich vorsichtig. "Und wie willst Du das machen?"
"Nun, ich werde nur minimal essen. Einmal am Tag. Salat oder so. Und viel Sport. Nach meinen Berechnungen habe ich die Sache dann in 8 Wochen erledigt."
Auf den dezenten Einwurf meiner Frau hin, dass dies nicht so einfach sei, konnte ich sie beruhigen.
"Es ist eigentlich eine Frage des Willens. Ich sage meinem Körper: Es gibt nichts, und dann gibt es nichts. Ich habe das selbstverständlich im Griff!"
Es ist eigentlich eine Frage des Intellekts und der geistigen Strenge, wie ich mir selbst versicherte. Daher würde ich hier keine Probleme haben.
Pünktlich zum Wochenbeginn begann ich mit mein Projekt: Minimale Mengen. Keine Knabbereien. Keine Kalorien.
Es war hart. Sehr hart. Geradezu brutal. Es ist erstaunlich, welche Überredungskunst der menschliche Körper aufbringen kann, wenn es darum geht, den archaischen Zustand des Hungers durch Essensgelüste zu durchbrechen. Ein geradezu animalisches Verlangen nach Hamburgern und Currywurst überkam mich. Unter Aufbietung all meiner Willenskraft gelang es mir jedoch, diese unerbittliche Aufwallung der Gefühle niederzukämpfen. "Ich-habe-das-Kommando" zischte ich meinem Körper unter zusammengebissenen Zähnen zu.
Und dabei war es erst der Nachmittag des ersten Tages.
Meiner Frau erläuterte ich souverän, dass alles nach Plan lief:
"Alles perfekt. Ich nehme noch ein Salatblatt!"
Es waren harte Tage.
Am Ende der zweiten Woche hatte ich einen Termin bei meinem Versicherungsvertreter. Eine Durchsicht meiner Unterlagen hatte in mir den Verdacht wachsen lassen, dass die Rettung der Versicherungsindustrie offensichtlich allein durch meine Beiträge gewährleistet werden sollte. Hier waren harte Verhandlungen auf Augenhöhe zur Kostenreduzierung angesagt. Unter anfeuernden Rufen meiner Frau fuhr ich zu der Unterredung.
Dem an seinem Schreibtisch sitzenden Versicherer erläuterte ich die Sachlage und verwies auf die allgemein schlechte weltwirtschaftliche Finanzlage, die eine starke häusliche Kostenreduzierung bei den Ausgaben unumgänglich mache. Mein geübt fester Verhandlungsblick in die Augen meines Gegenübers wurde jedoch ein wenig durch das Schälchen mit kleinen Gummibärchenbeuteln auf dem Schreibtisch abgelenkt.
"Ich muss also darauf bestehen, dass wir hier eine Lösung zur Reduzierung meiner Versicherungszahlungen finden. Sonst kann ich keinen Bär, äh Gewähr übernehmen, dass ich nicht… Was wollte ich noch einmal sagen?"
"Möchten Sie ein Tütchen von unseren Werbe-Gummibärchen?" Der Mann blickte mich freundlich fragend an.
Nun, etwas schnelle Energiezufuhr konnte bei so einem Verhandlungsgespräch nicht schaden. Ich öffnete das kleine Tütchen und schob die weiche Zuckermasse in meinen Mund.
Ein verzücktes Lächeln manifestierte sich auf meinem Gesicht. Welch ein Genuss nach 14 tägiger Kalorien- und Zuckerabstinenz! Selten hatte ich so etwas Leckeres zu mir genommen. Eine Geschmacksexplosion! Ich schüttete mir die restliche Tüte in den Mund und blickte fiebernd zu der verheißungsvoll gefüllten Schale. "Greifen Sie ruhig zu! Sie nehmen gerade ab, stimmt's? Kenn' ich. Da sind die besonders lecker!"
Ich öffnete zwei weitere Tütchen und schob mir den Inhalt wie verzweifelt in den Mund. Was für eine Wonne! Reiner Zucker verströmte seine kalorienhaltige Energie in meinen Körper. Die Welt wurde klarer, die Farben intensiver. Die Vögel begannen lieblich zu singen.
"Kschann isch etwasch Schcola hahen?" Meine Aussprache verschob sich ins klebrige.
"Aber klar doch. Frau Sänger, bringen Sie doch etwas Cola für unseren Gast? Haben wir noch die Donuts vom Frühstück übrig?"
Ich nickte heftig zustimmend mit dem Kopf.
"Wissen Sie was? Ich erzähle Ihnen etwas über die wirklich ernsten Versicherungslücken in Ihren Verträgen, und Sie nehmen einfach noch ein Kaffeeteilchen aus der Küche!"
Jetzt hatten wir für unsere Vertragsverhandlungen den richtigen Ansatz gefunden.
Nach Abschluss einer zusätzlichen Versicherung zum Schutz gegen allgemeine Naturkatastrophen (mit Sonderklausel zu Hungersnöten), konnten wir uns im weiteren Gespräch auf zwei zusätzliche Hausratsversicherungen (Streuselkuchen), eine neue Lebensversicherung (Marzipantörtchen) sowie zusätzliche Absicherung von Krankheitsrisiken bei Übergewicht und Zuckerkrankheit (Congnac als Digestif) verständigen.
Bei einem kleinen Imbiss im nahegelegenen Kaffee war der Abschluss diverser Schutzbriefe sowie eine Erhöhung des allgemeinen Hausratsversicherungsschutzes bei Befall durch Bantu-Wüstenkäfer und Zikaden nur eine Formalität.
Glückselig wankte ich nach Hause.
Meine Frau wollte wissen, warum sich unsere Versicherungszahlungen jetzt im Monat verdoppelt hätten.
Ich erklärte ihr, dass wäre eine Folge der EU-Krise und Frau Merkels Schuld.
Und mit meiner Diät wäre ich ebenfalls fertig.
Der Beitrag wurde am Sonntag, 1. Oktober 2017 veröffentlicht und wurde unter dem Topic Satiren - VORSICHT abgelegt.
'Jede Kalorie zählt - VorSICHT Satire März 2016'
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