Hier mal wieder ein Blick in den Science-Fiction-Kurzgeschichtenmarkt in den USA.
Asimov's beschert uns mit der Ausgabe April/Mai eine dicke Doppelausgabe, die mit 196 Seiten ein reiches Lesefutter bieten kann.
Interessant ist dabei, das die Kurzgeschichten (Short Stories) in dieser Ausgabe den vorhandenen Platz auch nutzen – statt einfach mehr Geschichten im Heft haben wir es diesmal mit deutlich längeren Vertretern ihrer Gattung zu tun.
Auffallend ist dieses Mal, dass der Schwerpunkt der Geschichten auf den menschlichen Aspekten liegt. Das ist insofern überraschend, gilt Asimov's doch eigentlich als sehr hardwarebezogen und eher als medium der Hard-SF.

Umso interessanter zu schauen, was wir dieses Mal geboten bekommen.


Will McIntosh "Scout" führt uns in eine Zukunft, in der die Erde und ihre Infrastruktur von Aliens angegriffen wird, was zu einer langsamen Zerstörung der Versorgung und einem Kollaps der staatlichen Ordnung geführt hat.
Der 13-jährige Kai hat seine Familie bei einem der Angriffe verloren, und er irrt durch den Schneesturm in einer Kleinstadt, in der inzwischen mangels Möglichkeiten auch die Hilfsangebote an die Flüchtlinge versiegt sind.
Hungrig und erfrierend, wird er von der telepathischen Stimme eines der angreifenden Aliens gerettet, die ihn dazu bringt, ein Feuer zu entzünden und ihm hilft, Essen zu finden.
Wie sich herausstellt, ist das Alien ein Scout, der bei einem Einsatz schwer verletzt wurde, und der mit letzter Kraft einen Schirm aufrechterhalten kann, um sich zu verbergen. Das Alien ist allein, hat Todesangst und ist verzweifelt. Es beschwört Kai, ihn nicht zu verraten – es möchte nur nach Hause. Und es habe schließlich Kai das Leben gerettet. Kai ist hin- und hergerissen zwischen der persönlichen Zuneigung zu dem Scout und seiner Verpflichtung den Mitmenschen gegenüber.
Der Junge verrät schließlich das fremde Lebewesen an die militärischen Sucheinheiten, welche den Scout sofort töten. Kai's Bitte um Gnade wird weder beachtet noch verstanden.
Die Kurzgeschichte endet mit Kai's innerer Frage: Wäre seine tote Mutter jetzt stolz auf ihn?
Sehr schön herausgearbeiteter Konflikt zwischen persönlichem Schicksal und der Logik des Verteidigungskrieges, bei dem jeder Teilnehmer der Angriffe ein Todfeind ist.

In "Like a Wasp to the Tongue" von Fran Wile geht es um eine Erzählung einer Ärztin in einer Strafeinheit, deren raue Mitglieder auf einem zu terraformierenden Planeten arbeiten und die kurz vor Ende der Arbeit und ihrer Bewährungszeit mit einer tödlichen Erkrankung konfrontiert werden.
Dabei ist Diana Rios ebenfalls auf Bewährung dort – ihr Einsatz als Ärztin auf dem Planeten in der Truppe würde die Streichung eines Eintrags wegen eines ärztlichen Fehlers bedeuten.
Die Lage eskaliert, als die ganze Einheit von der zivilen Truppe der Planetenentwickler ihrem Schicksal überlassen werden soll, die die Befürchtung hegten, die Erkrankung könne mit einer Sperrung des Planeten auch das Ende des gigantischen Terraformierungsprojektes bedeuten.
Am Schluss gelingt es Rios, die Lösung für die Erkrankung und auch eine Heilung zu finden.
Manchmal ein bisschen platt, in der Beschreibung der Gruppe unverbesserlicher Querköpfe und Unruhestifter, die es sich zum Wettbewerb machen, große speziell gezüchtete Wespen mit dem Mund zu fangen und zu töten – mit lebensgefährlichen Begleiterscheinungen nach einem Stich.
Aber nett geschrieben in dem Konflikt zwischen aufbegehrenden Zwangsverpflichteten und der Autorität der Ärztin, die ausschließlich aus persönlicher Überzeugungskraft und dem Glauben an ihre Fähigkeiten bestehen kann.

"Slowly upward, the Coelacanth"
Dass das ein "Quastenflosser" ist, der M. Bennardos Kurzgeschichte den Titel gibt, musste ich auch erst mal im Wörterbuch nachschlagen.
Eine sehr ungewöhnliche Geschichte, beginnend mit der verschwommenen Selbstwahrnehmung eines Fischs als Wächter einer Perle im Meer. Nach vielen Jahren wird der Fisch mit einem Netz gefangen, erstickt, wird lebend aufgeschlitzt – und eine kleine Murmel, die seinen Verstand darstellt, wird entnommen und in ein Landtier verpflanzt. Der Verstand beginnt, sich als Huhn zu fühlen, erweitert sich, wird wieder verpflanzt, von Tier zu Tier zu immer höheren Gattungen. Jetzt erfährt der Leser, dass in der seltsamen Murmel der Geist eines Menschen gespeichert ist, in einem verzweifelten technischen Verfahren, als aufgrund von Katastrophen und Erkrankungen Jahrzehnte zuvor Milliarden von Menschen dem Tode geweiht waren, und in dem man hoffte, den gespeicherten geist irgendwann wieder zugänglich zu machen.
Doch würde man es schaffen, einen Wirtskörper zu finden, in dem der gefangene menschliche Geist wieder in der Lage sein würde, in eine menschliche Kommunikation einzutreten, die Begrenzungen des Wirtskörpers hinter sich zu lassen?
Trotz der verzweifelten Erkenntnis ihrer selbst, ist die in der Kugel gefangene Frau nicht in der Lage, mit ihren menschlichen Gegenübern eine Kommunikation aufzubauen.
Das Ende ist erreicht, als sie wieder als Quastenflosser zu sich kommt, zufrieden mit ihrer Existenz als Wächter einer kleinen Kugel in ihrem Inneren.
Sehr philosophisch, definitiv keine Hard-SF (das Geist-in-der-Kugel-Konzept wird gar nicht ernsthaft begründet), sondern bewegend in der Frage, was Geist und was Körper ist, und welche Limitierungen das eine dem anderen aufzwingen mag.
Sehr gute SF!

K. J. Zimring schreibt in "The Talking Cure" über einen alten Mann, der den Beweis erbringen soll, dass das Gemälde, das sich in seinem Besitz befindet, einmal im Behandlungszimmer von Sigmund Freud hing. Möglich wäre diese Beweis, der den Wert des Bildes enorm erhöhen würde, durch eine Exploration seiner Erinnerungen.
Bei einem darauf spezialisierten Dienstleister wird in seiner Erinnerung nach den zugehörigen Bildern geforscht, und es breitet sich die Kindheitsgeschichte des jüdischen Jungen aus, der im Wien des 3. Reichs wegen Asperger-Syndrom als Behinderter in den Euthanasieprogrammen getötet werden soll. Seine Mutter erzwingt eine weitere Begutachtung durch einen Psychiater. Sie schärft ihrem Sohn ein, dass er jetzt kommunizieren müsse, sprechen, reden, unterhalten, sonst wäre er dem Tod geweiht. Der Junge spricht und schafft es, den Psychiater von der Falschheit der Diagnose zu überzeugen und überlebt. Er betrachtet dies als seine Kur, die ihn von seiner Kommunikationsschwäche geheilt hat, im Gegensatz zu seinem Cousin, der mit dem Asperger-Syndrom in der Psychiatrie sitzt und nicht kommunizieren kann.
Doch im Suchen in seiner Erinnerung wird deutlich, dass nichts seiner Geschichte so ist, wie er immer angenommen hat. Nicht seine Mutter, nicht sein Cousin, nicht seine Tante, nicht seine Erkrankung.
Eine schreckliche Erzählung über elterliche Verzweiflung und der Taten, die eine Mutter für das Überleben ihres Kindes zu tun bereit ist.
Das hat erst einmal gar nicht mit SF zu tun. Das ist für sich eine tolle Kurzgeschichte über die Handlung des Menschen in Grenzsituationen, wie auch der Brüchigkeit unserer als wahr geglaubten Biographie. Die Erinnerungssuche nach Freuds Bild und die beschriebene Zukunft geben aber der Geschichte noch einen kleinen Extradreh – und verfrachten Sie damit in das SF-Genre.
Ganz tolle Geschichte, ein durchaus preiswürdiger Kandidat für die nächste Prämierung von Kurzgeschichten.
Absolut lesenswert!

In Joe M. McDermotts Dystopie "Dolores, Big and Strong" befinden wir uns in der Erzählung des vierzehnjährigen Mädchens 'Junebug', dass auf dem Land bei Mutter und Großmutter lebt, und deren Familie um das nackte Überleben kämpft. Die Mutter arbeitet unter Ritalin-Einfluss nachts bis zur Erschöpfung am Fließband, um die Familie durchzubringen, die Großmutter hält eine Ziegenherde und leidet an Alzheimer und Parkinson. Sie kann ihre Krankheit nur dadurch im Zaum halten, dass mit Hilfe eines Shunts in ihrem und dem Arm der Vierzehnjährigen abends Blut ausgetauscht wird, was aufgrund einer zufälligen Übereinstimmung von Blutgruppe und diverser Faktoren möglich ist.
June hasst die Armut, den Gestank der Ziegen, die Kälte, die Hoffnungslosigkeit, den Shunt in ihrem Arm, alles. Ein achtzehnjähriger Junge, der für die Familie Medikamente und Hasch dealt, bietet ihr an, mit ihm abzuhauen, was sie erwägt, aber dann doch nicht tut.
Die Lage eskaliert, als Petey Geld der Großmutter stiehlt. June meldet den beobachteten Diebstahl und Petey kommt ins Gefängnis. Er rächt sich, in dem er den illegalen Einkauf von Medikamenten der Großmutter anzeigt, die daraufhin ebenfalls ins Gefängnis kommt. Als sie wieder frei ist, sind ihre Krankheiten weit fortgeschritten, und sie weigert sich, weiterhin Blut von dem Mädchen anzunehmen. Schließlich begeht sie in ihrer Verzweiflung Selbstmord.
Als die Mutter den Shunt im Arm von June im Krankenhaus entfernen lassen will, werden sie Zeugen, wie Petey zugedröhnt als Verursacher eines Verkehrsunfalls eingeliefert wird. June tötet den Jungen als Rache für den Tot ihrer Großmutter, indem sie in einem unbeobachteten Moment Blut aus ihrem Shunt in den Blutkreislauf des Jungen leitet.
Die Geschichte ist harter Tobak, und ich habe erst gar nicht versucht herauszufinden, ob es einen realen Hintergrund einer Bluttherapie bei Parkinson gibt (ich glaube eigentlich nicht), aber in dieser meisterlichen Geschichte ist das eigentlich auch nebensächlich.
Hier geht es um tiefschürfende Fragen der Verantwortung, der Pflicht, des Aufbegehrens der Jugend gegen unerträgliche Umstände, aber auch Ungerechtigkeit gegenüber dem Rest der Familie. Eine Geschichte über Erwachsen werden und das Leben. Und auch hier wieder alles am Rande der SF. Die Geschichte würde auch außerhalb des Genres ungeteilte Zustimmung erfahren. Super.

Die Qualität der Kurzgeschichten in dieser Ausgabe finde ich absolut bemerkenswert. Genauso wie die Art der Geschichten für Asimov's sehr ungewöhnlich ist.
Hut ab, das ist Science Fiction der besten Art!
Der Beitrag wurde am Sonntag, 30. März 2014 veröffentlicht und wurde unter dem Topic Asimov's Science Fiction Magazine abgelegt.
'Neue Kurzgeschichten in Asimov's April/Mai'

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