Eine kleine Buchempfehlung.
Dieses mal ein ganz aktuelles Sachbuch von 2012:
Draaisma, Douwe: Das Buch des Vergessens - Warum Träume so schnell verloren gehen und Erinnerungen sich ständig verändern
Meine Wertung:
Zu den faszinierendsten Dingen gehören unser Erleben mit dem eigenen Gedächtnis und seiner Beschränktheit, genauso wie die Seltsamkeiten von Träumen.
Der holländischer Bestsellerautor Douwe Draaisma, Professor für Psychologiegeschichte, verschafft dem Leser in seinem neuesten Werk eine Übersicht über den Stand der Forschung des Lernens und Vergessens.
Er tut dies in erzählender, anekdotischer Art, er schildert die Geschichte unseres Versuchs, das Rätsel des Gedächtnisses zu verstehen und zu erklären.
Dabei nähert er sich ganz unaufgeregt auch den großen Theorien über unser Selbst und unseren Erinnerungen.
Neben dem aktuellen wissenschaftlichen Stand zum Thema Träumen (Warum vergessen wir nach dem Aufwachen unsere Träume meist binnen Minuten? Träumen wir nur in unseren REM-Phasen? Warum ist der Schlusspunkt in manchen Träumen so perfekt passend zum Zeitpunkt des Aufwachens? Laufen unsere Traumepisoden in Wirklichkeit rückwärts?) arbeitet er sich zum Thema der Frage der Leistungsfähigkeit unseres Gedächtnisses vor. Unspektakulär resümiert er besonders Themen, bei denen der gebildete Mitbürger durch Debatten und Diskussionen befeuert eine klare Meinung zu haben scheint - und doch völlig falsch liegt.
Zentraler Punkt in diesem Buch ist die Frage, wie unbestechlich unser Gedächtnis ist. Ist unserer Gehirn ein perfektes Aufnahmegerät, dessen Inhalt durch geeignete Maßnahmen (Psychoanalyse, Hypnose) wieder an die Oberfläche geholt werden kann? Oder unterliegt es einem permanenten Vergessen, das (von dem Problem, eine Erinnerung wiederzufinden, einmal abgesehen) für unsere Vergangenheit immer größere Lücken produziert und vorhandenes vergröbert und verfälscht?
Brisant mach dieses Thema, dass die Psychoanalyse und weite Teile der Theorie von Sigmund Freud auf dem Ansatz basieren, dass wir eine Art perfektes Gedächtnis besitzen, dessen Zugang nur korrekt freigeräumt werden muss.
Und hier resümiert Draaisma den aktuellen Stand der Forschung und Wissenschaft, der verblüffend eindeutig ist: Die von Freud postulierte Verdrängung der dauerhaften Erinnerung existiert nicht.
Damit ist übrigens auch das Urteil über die in den Achtzigern und Neunzigern so populären psychologischen Versuche gesprochen, jedes Problem durch Hervorzerren von verdrängten Erinnerungen heilen zu wollen.
Und gleichzeitig auch über weite Teile von Freuds Theorie, dem der Autor anhand von Fallbeispielen wenig Schmeichhelhaftes nachsagen kann: Freud war nach unseren heutigen Maßstäben gleichermaßen geltungssüchtig wie sexistisch, und der Verdacht liegt nahe, dass seine Falldeutungen in weiten Teilen unfreiwillig seine eigenen Vorurteile und Gedanken widerspiegeln.
Unser Gedächtnis ist aus Überlebensgründen darauf angewiesen, einen permanenten Löschprozess am Laufen zu halten, der aus praktischen Gründen dazu führt, dass Alte Erinnerungen durch ähnliche Neue überschrieben werden. Der Rat des Autors Rat an jeden Reisenden: Fahre niemals ein weiteres Mal an einen Ort, an den Du wunderschöne Erinnerungen hast: Die neuen Erinnerungen überlagern binnen kurzer Zeit die alten Bilder und Empfindungen.
Für die Traumaforschung hat sich in den letzten Jahren gerade bei der Untersuchung von Unfallopfern und Kriegsteilnehmern klar ergeben, dass eine "Verdrängung" von aufwühlenden Erlebnissen äußerst selten ist: Extreme Belastungen erzeugen ein posttraumatisches Syndrom, das genaue Gegenteil der Verdrängung, dessen Problem die Unmöglichkeit ist, die Bilder vor dem inneren Auge wieder loszuwerden.
Interessant sind auch die Bezugnahmen auf den allgemeinen Irrglauben über die Güte des Gedächtnisses: Jeder Polizist wird einem bei einer Unfallaufnahme bestätigen können, dass die meisten Leute schon eine Stunde nach einem Ereignis kaum eine einheitlichen Angabe zum Hergang machen.
In einem dritten Teil widmet sich der Autor den Fragen unserer Beziehung zu Bildern und Porträts von Menschen und Verstorbenen, und welches Schwergewicht wir in unserer Kultur darauf setzen, nach unserem Tod nicht vergessen zu werden. Dieser Teil ist interessant gut geschrieben, hat aber eigentlich wenig Bezug zum Rest des Buches, und scheint ein bischen dem Füllen der 350 Seiten geschuuldet zu sein.
Ein einfühlsam und unterhaltsam geschriebenes Buch, das zum Nachdenken anregt und Spaß macht.
Empfehlenswert.
Dieses mal ein ganz aktuelles Sachbuch von 2012:
Draaisma, Douwe: Das Buch des Vergessens - Warum Träume so schnell verloren gehen und Erinnerungen sich ständig verändern
Meine Wertung:
Zu den faszinierendsten Dingen gehören unser Erleben mit dem eigenen Gedächtnis und seiner Beschränktheit, genauso wie die Seltsamkeiten von Träumen.
Der holländischer Bestsellerautor Douwe Draaisma, Professor für Psychologiegeschichte, verschafft dem Leser in seinem neuesten Werk eine Übersicht über den Stand der Forschung des Lernens und Vergessens.
Er tut dies in erzählender, anekdotischer Art, er schildert die Geschichte unseres Versuchs, das Rätsel des Gedächtnisses zu verstehen und zu erklären.
Dabei nähert er sich ganz unaufgeregt auch den großen Theorien über unser Selbst und unseren Erinnerungen.
Neben dem aktuellen wissenschaftlichen Stand zum Thema Träumen (Warum vergessen wir nach dem Aufwachen unsere Träume meist binnen Minuten? Träumen wir nur in unseren REM-Phasen? Warum ist der Schlusspunkt in manchen Träumen so perfekt passend zum Zeitpunkt des Aufwachens? Laufen unsere Traumepisoden in Wirklichkeit rückwärts?) arbeitet er sich zum Thema der Frage der Leistungsfähigkeit unseres Gedächtnisses vor. Unspektakulär resümiert er besonders Themen, bei denen der gebildete Mitbürger durch Debatten und Diskussionen befeuert eine klare Meinung zu haben scheint - und doch völlig falsch liegt.
Zentraler Punkt in diesem Buch ist die Frage, wie unbestechlich unser Gedächtnis ist. Ist unserer Gehirn ein perfektes Aufnahmegerät, dessen Inhalt durch geeignete Maßnahmen (Psychoanalyse, Hypnose) wieder an die Oberfläche geholt werden kann? Oder unterliegt es einem permanenten Vergessen, das (von dem Problem, eine Erinnerung wiederzufinden, einmal abgesehen) für unsere Vergangenheit immer größere Lücken produziert und vorhandenes vergröbert und verfälscht?
Brisant mach dieses Thema, dass die Psychoanalyse und weite Teile der Theorie von Sigmund Freud auf dem Ansatz basieren, dass wir eine Art perfektes Gedächtnis besitzen, dessen Zugang nur korrekt freigeräumt werden muss.
Und hier resümiert Draaisma den aktuellen Stand der Forschung und Wissenschaft, der verblüffend eindeutig ist: Die von Freud postulierte Verdrängung der dauerhaften Erinnerung existiert nicht.
Damit ist übrigens auch das Urteil über die in den Achtzigern und Neunzigern so populären psychologischen Versuche gesprochen, jedes Problem durch Hervorzerren von verdrängten Erinnerungen heilen zu wollen.
Und gleichzeitig auch über weite Teile von Freuds Theorie, dem der Autor anhand von Fallbeispielen wenig Schmeichhelhaftes nachsagen kann: Freud war nach unseren heutigen Maßstäben gleichermaßen geltungssüchtig wie sexistisch, und der Verdacht liegt nahe, dass seine Falldeutungen in weiten Teilen unfreiwillig seine eigenen Vorurteile und Gedanken widerspiegeln.
Unser Gedächtnis ist aus Überlebensgründen darauf angewiesen, einen permanenten Löschprozess am Laufen zu halten, der aus praktischen Gründen dazu führt, dass Alte Erinnerungen durch ähnliche Neue überschrieben werden. Der Rat des Autors Rat an jeden Reisenden: Fahre niemals ein weiteres Mal an einen Ort, an den Du wunderschöne Erinnerungen hast: Die neuen Erinnerungen überlagern binnen kurzer Zeit die alten Bilder und Empfindungen.
Für die Traumaforschung hat sich in den letzten Jahren gerade bei der Untersuchung von Unfallopfern und Kriegsteilnehmern klar ergeben, dass eine "Verdrängung" von aufwühlenden Erlebnissen äußerst selten ist: Extreme Belastungen erzeugen ein posttraumatisches Syndrom, das genaue Gegenteil der Verdrängung, dessen Problem die Unmöglichkeit ist, die Bilder vor dem inneren Auge wieder loszuwerden.
Interessant sind auch die Bezugnahmen auf den allgemeinen Irrglauben über die Güte des Gedächtnisses: Jeder Polizist wird einem bei einer Unfallaufnahme bestätigen können, dass die meisten Leute schon eine Stunde nach einem Ereignis kaum eine einheitlichen Angabe zum Hergang machen.
In einem dritten Teil widmet sich der Autor den Fragen unserer Beziehung zu Bildern und Porträts von Menschen und Verstorbenen, und welches Schwergewicht wir in unserer Kultur darauf setzen, nach unserem Tod nicht vergessen zu werden. Dieser Teil ist interessant gut geschrieben, hat aber eigentlich wenig Bezug zum Rest des Buches, und scheint ein bischen dem Füllen der 350 Seiten geschuuldet zu sein.
Ein einfühlsam und unterhaltsam geschriebenes Buch, das zum Nachdenken anregt und Spaß macht.
Empfehlenswert.
Der Beitrag wurde am Sonntag, 27. Januar 2013 veröffentlicht und wurde unter dem Topic Buecher abgelegt.
'Buchempfehlung: Douwe Draaisma - Das Buch des Vergessens'
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