Die grausame Wahrheit
von Klaus Marion.
Veröffentlicht in VORSICHT 9/2012
Alle lieben den Jahrmarkt. Wirklich? Es scheint Zeit, die nackte und ungeschminkte Wahrheit ans Licht zu bringen.
Ich saß mit meinem alten Freund Rudi zusammen, um bei einem gepflegten Bier dem am nächsten Abend beginnenden Jahrmarkt zu gedenken. Ich blickte in meinen Gedanken auf die nächsten Tage des Bad Kreuznacher Ausnahmezustands, vor meinem inneren Auge die Massen der glücklichen Menschen erblickend, die sich wieder tagelang der fröhlichen Feier auf diesem urtypischen regionalen Jahresereignis hingeben würden.
Ich beugte mich zu Rudi vor.
„Du, wir kennen uns doch schon seit vielen Jahren. Ich muss Dir ein Geständnis machen...“
Rudi schaute mich beruhigend an.
„Das dachte ich mir! Du hast also auch Schwarzgeld in der Schweiz. Aber wozu hat man Freunde? Für einen Unkostenanteil von 65% kann ich Dir das Geld problemlos nach Lichtenstein…“
„Quatsch! Ich habe kein Schwarzgeld, auch nicht in der Schweiz. Es geht um den Jahrmarkt: Ich… ich mag ihn nicht so wirklich.“
„WAS? Du hasst den Jahrmarkt???“
„Nicht hassen. Nein. Aber er begeistert mich auch nicht so, wie alle anderen Menschen, die hier wohnen. Ich versuche immer, mehr Enthusiasmus zu entwickeln. Aber es funktioniert nicht. Es ist mir klar, dass ich mit diesem Gefühl völlig alleine stehe. Trotzdem gehe ich immer wieder hin, seltsamer Weise…“
Rudi war fassungslos. Er starrte mich mit verständnislosen Augen an, während seine Gesichtszüge beginnende Furcht vor einem offensichtlich Verrückten offenbarten. Doch dann entspannte sich seine Miene plötzlich zu einem erleichterten Lächeln.
„Ach so. Richtig. Du bist ja gar nicht hier aufgewachsen! Das ist was anderes!“
Ich betrachtete ihn erstaunt. Ich war tatsächlich erst im jugendlichen Alter hierhergekommen.
Rudi blickte vorsichtig zu den Tischen links und rechts, bevor er seine Stimme senkte.
„Das ist natürlich was anderes. Du kannst es gar nicht wissen. Niemand mag den Jahrmarkt!“
„Häh??“
„Alle hassen ihn. Nun, nicht wirklich alle. Aber die große, wissende Mehrheit, sie ist froh, wenn der Trubel rum ist. Aber das darf man natürlich nicht zeigen.“
„Auch Du? Die ganzen tollen Fahrgeschäfte…“
„Schrecklich. Diese Übelkeit danach. Und dann muss man die ganze Zeit brüllen: ‚Mehr! Meeehr‘‘. Manchmal übergebe ich mich die ganze Nacht…“
„Die vielen Wein- und Bierzelte…“
„Ekelhaft! Ich muss mich zwingen, nach dem ersten Abend auch nur noch einen Schluck runter zu bringen. Und diese Maßkrugsauferei jeden Tag – das Schlimmste auf der Welt. Schon die ganzen Monate vorher sind mir verdorben. Ich flehe meinen Arzt an, endlich eine Diagnose auf eine Lebererkrankung zu stellen – dann wäre ich entschuldigt. Aber er findet nichts…“
„Die tollen Buden mit dem leckeren Essen?“
„Noch einen Reibekuchen, und ich muss erbrechen. Ich hasse Würstchen. Und Pommes kann ich auch keine mehr sehen. Und dann darfst Du es nicht einmal zeigen! Außer nach Mitternacht. Da kann man den Betrunkenen mimen!“
„Die gigantische Stimmung?“
„Schrecklich. Besteht aus einem irren Gedränge, in dem man nicht vorwärtskommt, von auf Schultern getragenen Babys angespuckt und von Taschendieben beklaut wird. Den Rest des Geldes gibt man für überteuerte Lose und völlig sinnfreie Spiele an irgendwelchen Buden aus.“
„Aber der romantische Weg dorthin entlang der Nahe?“
„Du läufst Dir Plattfüße und stolperst im Halbdunkel ständig über Besoffene. Ich kann es fast nicht mehr ertragen…“
Ich blickte ihn fassungslos an.
„Und das geht nicht nur Dir so?“
„Mindestens achtzig Prozent aller Kreuznacher denkt genauso!“
„Aber wieso geht man dann hin? Und warum sagt keiner was?“
„Das ist ein Geheimplan der Stadtväter aus dem vorigen Jahrhundert. Der Fremdenverkehr muss angeregt, die Kurgäste begeistert werden. Der Getränkeumsatz muss steigen. Das Wohl der Gemeinde hängt davon ab!“
„Und warum weiß ich nichts davon?“
„Nun, schon im frühesten Kindesalter wird bestimmt, wer die harte Wahrheit erfahren darf. Ausgewogenen Charakteren und intelligenten Kindern wird in der frühen Jugend die Notwendigkeit der Jahrmarktsbegeisterung offenbart. Sie müssen bei Weck und Worscht schwören, diese Wahrheit niemals mit einem Außenstehenden zu teilen.“
„Und die Anderen?“
„Hypnose. Gehirnwäsche. Von den ersten Schultagen an. Ein ganzes Heer von Spezialisten der Kreuznacher Stadtverwaltung ist dort im Einsatz. Damit wird den Kindern die Begeisterung für dieses seltsame Fest eingeimpft. Doch die Intelligenten wissen Bescheid. Wir Insider, die wir die Verantwortung für diese Stadt übernommen haben, sind unserer Pflicht bewusst. Wir treffen uns regelmäßig in kleinen Zirkeln, um unsere Abneigung gegen den Jahrmarkt auszusprechen und die weiteren Maßnahmen für die große Täuschung der Öffentlichkeit zu planen.“
Ich saß wie betäubt auf meinem Stuhl, bevor ich mich wieder aufrichtete.
„So ein Blödsinn! Das kannst Du jemand anderem erzählen!! Das wäre ja so, als ob man behaupten würde, die Begeisterung für den Wein hier beruhe nur auf tiefenhypnotische Beeinflussung der Bevölkerung!“
Rudi erstarrte.
„Wer hat Dir das verraten?“
Ich muss noch mal ernsthaft darüber nachdenken. Bei einem Schoppen Wein nach einem der nächsten Jahrmarktsbesuche.
von Klaus Marion.
Veröffentlicht in VORSICHT 9/2012
Alle lieben den Jahrmarkt. Wirklich? Es scheint Zeit, die nackte und ungeschminkte Wahrheit ans Licht zu bringen.
Ich saß mit meinem alten Freund Rudi zusammen, um bei einem gepflegten Bier dem am nächsten Abend beginnenden Jahrmarkt zu gedenken. Ich blickte in meinen Gedanken auf die nächsten Tage des Bad Kreuznacher Ausnahmezustands, vor meinem inneren Auge die Massen der glücklichen Menschen erblickend, die sich wieder tagelang der fröhlichen Feier auf diesem urtypischen regionalen Jahresereignis hingeben würden.
Ich beugte mich zu Rudi vor.
„Du, wir kennen uns doch schon seit vielen Jahren. Ich muss Dir ein Geständnis machen...“
Rudi schaute mich beruhigend an.
„Das dachte ich mir! Du hast also auch Schwarzgeld in der Schweiz. Aber wozu hat man Freunde? Für einen Unkostenanteil von 65% kann ich Dir das Geld problemlos nach Lichtenstein…“
„Quatsch! Ich habe kein Schwarzgeld, auch nicht in der Schweiz. Es geht um den Jahrmarkt: Ich… ich mag ihn nicht so wirklich.“
„WAS? Du hasst den Jahrmarkt???“
„Nicht hassen. Nein. Aber er begeistert mich auch nicht so, wie alle anderen Menschen, die hier wohnen. Ich versuche immer, mehr Enthusiasmus zu entwickeln. Aber es funktioniert nicht. Es ist mir klar, dass ich mit diesem Gefühl völlig alleine stehe. Trotzdem gehe ich immer wieder hin, seltsamer Weise…“
Rudi war fassungslos. Er starrte mich mit verständnislosen Augen an, während seine Gesichtszüge beginnende Furcht vor einem offensichtlich Verrückten offenbarten. Doch dann entspannte sich seine Miene plötzlich zu einem erleichterten Lächeln.
„Ach so. Richtig. Du bist ja gar nicht hier aufgewachsen! Das ist was anderes!“
Ich betrachtete ihn erstaunt. Ich war tatsächlich erst im jugendlichen Alter hierhergekommen.
Rudi blickte vorsichtig zu den Tischen links und rechts, bevor er seine Stimme senkte.
„Das ist natürlich was anderes. Du kannst es gar nicht wissen. Niemand mag den Jahrmarkt!“
„Häh??“
„Alle hassen ihn. Nun, nicht wirklich alle. Aber die große, wissende Mehrheit, sie ist froh, wenn der Trubel rum ist. Aber das darf man natürlich nicht zeigen.“
„Auch Du? Die ganzen tollen Fahrgeschäfte…“
„Schrecklich. Diese Übelkeit danach. Und dann muss man die ganze Zeit brüllen: ‚Mehr! Meeehr‘‘. Manchmal übergebe ich mich die ganze Nacht…“
„Die vielen Wein- und Bierzelte…“
„Ekelhaft! Ich muss mich zwingen, nach dem ersten Abend auch nur noch einen Schluck runter zu bringen. Und diese Maßkrugsauferei jeden Tag – das Schlimmste auf der Welt. Schon die ganzen Monate vorher sind mir verdorben. Ich flehe meinen Arzt an, endlich eine Diagnose auf eine Lebererkrankung zu stellen – dann wäre ich entschuldigt. Aber er findet nichts…“
„Die tollen Buden mit dem leckeren Essen?“
„Noch einen Reibekuchen, und ich muss erbrechen. Ich hasse Würstchen. Und Pommes kann ich auch keine mehr sehen. Und dann darfst Du es nicht einmal zeigen! Außer nach Mitternacht. Da kann man den Betrunkenen mimen!“
„Die gigantische Stimmung?“
„Schrecklich. Besteht aus einem irren Gedränge, in dem man nicht vorwärtskommt, von auf Schultern getragenen Babys angespuckt und von Taschendieben beklaut wird. Den Rest des Geldes gibt man für überteuerte Lose und völlig sinnfreie Spiele an irgendwelchen Buden aus.“
„Aber der romantische Weg dorthin entlang der Nahe?“
„Du läufst Dir Plattfüße und stolperst im Halbdunkel ständig über Besoffene. Ich kann es fast nicht mehr ertragen…“
Ich blickte ihn fassungslos an.
„Und das geht nicht nur Dir so?“
„Mindestens achtzig Prozent aller Kreuznacher denkt genauso!“
„Aber wieso geht man dann hin? Und warum sagt keiner was?“
„Das ist ein Geheimplan der Stadtväter aus dem vorigen Jahrhundert. Der Fremdenverkehr muss angeregt, die Kurgäste begeistert werden. Der Getränkeumsatz muss steigen. Das Wohl der Gemeinde hängt davon ab!“
„Und warum weiß ich nichts davon?“
„Nun, schon im frühesten Kindesalter wird bestimmt, wer die harte Wahrheit erfahren darf. Ausgewogenen Charakteren und intelligenten Kindern wird in der frühen Jugend die Notwendigkeit der Jahrmarktsbegeisterung offenbart. Sie müssen bei Weck und Worscht schwören, diese Wahrheit niemals mit einem Außenstehenden zu teilen.“
„Und die Anderen?“
„Hypnose. Gehirnwäsche. Von den ersten Schultagen an. Ein ganzes Heer von Spezialisten der Kreuznacher Stadtverwaltung ist dort im Einsatz. Damit wird den Kindern die Begeisterung für dieses seltsame Fest eingeimpft. Doch die Intelligenten wissen Bescheid. Wir Insider, die wir die Verantwortung für diese Stadt übernommen haben, sind unserer Pflicht bewusst. Wir treffen uns regelmäßig in kleinen Zirkeln, um unsere Abneigung gegen den Jahrmarkt auszusprechen und die weiteren Maßnahmen für die große Täuschung der Öffentlichkeit zu planen.“
Ich saß wie betäubt auf meinem Stuhl, bevor ich mich wieder aufrichtete.
„So ein Blödsinn! Das kannst Du jemand anderem erzählen!! Das wäre ja so, als ob man behaupten würde, die Begeisterung für den Wein hier beruhe nur auf tiefenhypnotische Beeinflussung der Bevölkerung!“
Rudi erstarrte.
„Wer hat Dir das verraten?“
Ich muss noch mal ernsthaft darüber nachdenken. Bei einem Schoppen Wein nach einem der nächsten Jahrmarktsbesuche.
Der Beitrag wurde am Sonntag, 6. Januar 2013 veröffentlicht und wurde unter dem Topic Satiren - VORSICHT abgelegt.
'Die grausame Wahrheit - Satire in VorSICHT September 2012'
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