Kurzgeschichten sind eine ganz besondere Sorte von Literatur: Kompakte Geschichten, verdichtet auf das Wesentliche. Die Kunst, mit wenigen Worten trotzdem große Dinge zu erzählen. Hier eine Sammlung meiner liebsten 100 Kurzgeschichten, von Science Fiction, über Krimi bis Horror. Alle ungewöhnlich. Alle lesenswert.
(Dabei verwende ich die Bezeichnung "Kurzgeschichte" in einer sehr weiten Definition : Siehe auch meine Einleitung)

Dieses mal eine Science Fiction Kurzgeschichte von 1968:

James Tiptree jr.: Geburt eines Handlungsreisenden
(englischer Originaltitel: Birth of a Salesman)
entnommen aus: Beam uns nachhaus 1976

Meine Wertung: Wertung: 5 von 5 Sternen

Für viele Filmfans ist der Spielfilm "Eins, Zwei, Drei" aus dem Jahre 1962 die beste und witzigste Screwball-Komödie, die jemals gedreht wurde. James Cagney spielt einen nach West Berlin verbannten Coca-Cola-Vize-Präsidenten, der so gerne die Coca-Leitung von ganz Europa übernehmen würde. Er wittert seine große Chance, als er für einige Tage auf die lebenslustige Tochter des Obersten Chefs aufpassen soll. Doch gerade, als der Boss und seine Frau in Berlin auftauchen wollen, stellt sich heraus, dass die Tochter schwanger ist, und sich mit einem jungen glühenden Ostberliner Kommunisten verheiratet hat...
Diese Komödie, um es mit einem abgewandelten Bonmot von Cecille de Mille zu sagen, startet mit dem wahnwitzigen Tempo eine Rakete, um sich dann ganz langsam zum Höhepunkt zu steigern.
Sicher gibt es noch andere Kandidaten für diesen Titel: "Is was Doc?" mit Barbara Streisand und Ryan O'Neil ist ebenfalls flott, ohne aber das Tempo von "Eins, Zwei, Drei zu erreichen" ("Tut mir nichts, ich bin Halb-Italiener!") , Das geniale "Manche mögens heiß" hat in der Mitte kleinere Durchhänger, und der ganz heiße Comedy-Preis-Kandidat "Der Partyschreck" von Blake Edwards startet dagegen ganz betont langsam, um dann erst am Schluss sein volles Tempo aufzunehmen.
Nein, echte "Eins, Zwei, Drei"-Fans erkennt man daran, dass sie auf irgendwelche verlockende Angebote unmotiviert "Ich nehme den Job!" sagen, und bei dämlichen Aussagen Ihrer Mitmenschen demjenigen eine Blume unter die Nase halten und mit einem "Könnten Sie dies für RIAS-Berlin wiederholen?" kommentieren.

Es gibt eine SF-Kurzgeschichte, die ein vergleichbares wahnwitziges Tempo und irrsinigen Inhalt hat: "Die Geburt eines Handlungsreisenden" von James Tiptree Jr alias Alice B. Sheldon.
In dieser Kurzgeschichte wird der absurde Arbeitstag der völlig überarbeiteten Beamten der "Kontrollstelle für den Export in Xenokulturen" (KEX) unter dem Chef T. Benedict geschildert. Ein chaotisches Sammelsurium von sich überschlagenden Anrufen, Problemen, skurrilen Anfragen und nicht zugelassenen Waren ergießt sich auf wenigen Seiten über den Leser. Hat das Produkt für den Umschlag auf Scolda II möglicherweise unsittliche Formen? Belästigt der Geruch die Ureinwohner auf dem Umschlagsplaneten? Warum hat die Hautcreme aphrodisierende Wirkungen auf Froschbewohner von Tellep? Die Gespräche meist in Form von nur einseitig zu hörenden Telefongesprächen, wird hier eine Screwball Comedy zelebriert, die als Kurzgeschichte ihresgleichen sucht. Es ist schwierig, dieses Tempo in einer geschriebenen Geschichte zu erreichen, die der Leser ja selber auch noch lesen muss. Alice Sheldon ist das gelungen. Mich hat diese Kurzgeschichte als Jugendlicher so sehr imponiert, dass ich versucht habe, den Stil zu kopieren, mit nur mäßigem Erfolg.

"Science Fiction auf Speed" - unter dem Gesichtspunkt, dass die Autorin lange Zeit auch ein Drogenproblem in dieser Richtung hatte, trifft es diese doppeldeutige Bezeichnung ziemlich gut.
Unbedingt mal wieder lesen!
Der Beitrag wurde am Freitag, 30. November 2012 veröffentlicht und wurde unter dem Topic 100 Kurzgeschichten abgelegt.
'100 Kurzgeschichten ~ Tag 5: James Tiptree jr. - Geburt eines Handlungsreisenden'

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