Leserbrief
von Klaus Marion.

Aus AN 185
© Klaus Marion Oktober 2000

Vorbemerkung:
Es gab Zeiten, da war es für Leserbriefschreiber in den Andromeda Nachrichten des SFCD nicht ganz einfach, Gehör zu finden. Leserbriefe gingen verloren, wurden wegen Redaktionsschluss ein nicht veröffentlicht oder wurden aus Platzgründen teilweise sinnentstellend gekürzt.
Sollte es da ein System geben?
Der nachfolgende Bericht aus der Asimov-Keller-Bar enthüllte die Wahrheit...


Es war ein kühler Herbstabend, doch in der Asimov Kellerbar verbreitete der Heizofen sowie zwei genossene Cyberspace-Flips die mollige Wärme, den die Stammgäste der ersten und einzigen SF-Kneipe in Deutschland so lieben. Bis vor wenigen Sekunden hatte ich noch gedankenverloren in dem undefinierbaren Inhalt meines Mixglases gerührt und den Fernseher beobachtet, auf dem zur frühen Stunde die neuesten deprimierenden Ergebnisse der deutschen Olympioniken tabellarisch dargestellt wurden. Plötzlich sprang Rudolf "Rudi" Gerstner, seines Zeichens Schankwirt und Besitzer des Etablissements, mit einem gehockten Seitsprung über die Theke, um sich mit einer gestreckten Flanke auf Frank Aussenstein zu werfen. Dieser, gerade noch im Begriff, die Treppe zum Ausgang zu erklimmen, konnte dem direkten Zugriff durch einen schnellen Sidestep entfliehen, und wenn nicht Herbert Thiery dem hoffnungsvollen Nachwuchsautor mit einem schnellen Schlag eines seiner voluminösen Fanzines auf den Hinterkopf geschlagen hätte, wäre die Flucht sogar gelungen.
So schleppten die beiden Aussenstein zu seiner Schreibmaschine in der Ecke des Kellerlokals, wo er von einigen Helfern in Empfang genommen wurde. Rudi kehrte schweratmend hinter seinen Tresen zurück, während er sich gedankenverloren einige Erdnussschalen von der Hose klopfte.
Ich starrte ihn an
"Was war denn das?"
Rudi schon mir begütigend ein frisch gezapftes Bier über den Tresen.
"Hier, trink. Das ist gerade noch einmal gut gegangen!"
"?"
"Nun, Aussenstein wollte einen AN-Leserbrief schreiben."
"Und deswegen spannt ihr seine Zunge in die Walze seiner Schreibmaschine??" Im Hintergrund hatten mehrere Vorstandsmitglieder des SFCD aufgehört, Franks Kopf rhythmisch auf die Tischplatte zu schlagen.
Aussenstein war durch sein eingeklemmte Zunge artikulatorisch stark eingeschränkt, wehrte sich aber weiterhin verbissen.
"Isch sache nichsch!!"
"Unsinn. Er will nur nicht sagen, wo er den Leserbrief versteckt hat. Aber das kriegen wir noch raus!" Mein fassungslose Miene schien ihn zu überraschen. Er beugte sich vor.
"Sag bloß, Du bist noch gar nicht eingeweiht? Nein? Dann wird es aber Zeit. Ich frage dich mal was: Warum werden in AN sowenig Leserbriefe veröffentlicht?"
"Nun, weil die Leute zu träge sind, keine Lust mehr haben, in einem Medium zu diskutieren, das so unregelmäßig erscheint, und weil es an Themen fehlt."
"Da liegst Du falsch!"
"Und weil Sie keine Lust haben, auf einen Leserbrief immer gleich einen dummen Kommentar vom so manchem zuständigen Redakteurs unten drunter geschrieben zu bekommen."
"Völlig falsch! Die Wahrheit ist:.."
Er blätterte unter dem Tresen in seinen Unterlagen
"Hier: Für die vorvorletzte Ausgabe von AN hatten wir 91 Leserbriefe, 4 Gedichte sowie zwei Leserkommentare in Form von Short Stories sowie einen gesungenen Kommentar auf einer Audiocassette. Die Zahlen der Ausgabe vorher war ähnlich, nur die Anzahl der Gedichte war deutlich niedriger."
"Aber... in keiner der Nummern erschien auch nur ein einziger Brief??"
"Genau. Das ist KONTAKT zu verdanken!"
"KONTAKT?"
"Konzertierte onlinegestützte neue Technik der Abwehr katastrophaler Textmengen. Eine geheime Initiative des SFCD-Vorstandes unter konspirativer Beteiligung der AN-Redaktion. Ja, schau mich nicht so fassungslos an. Wir hätten allein für die angesprochene Ausgabe 238 Seiten an Leserpost veröffentlichen müssen, und da ist die Verkleinerung auf 4 Punkt Schriftgröße bereits berücksichtigt."
"Soviel?"
"Ja, und das ohne die Gedichte. Das geht einfach nicht. Wir können aber auch nicht einzelne Leserbriefe einfach weglassen. Schließlich müssen auch wir unseren Verpflichtungen der Satzung nachkommen. Man hat schließlich auch seine Ehre. Also wurde in einem geheimen Führungszirkel beschlossen, dass dieser Leserbriefterror ein Ende haben muss. 'So kann es nicht weitergehen!', hatte Birgit eindringlich betont.
"Und da habt ihr..."
"Wir haben erst einmal versucht, die Leute zu vergraulen. Das Verfahren war klar. Sinnenstellende Tippfehler, Leserbriefe mit hämischen Kommentaren versehen, den Leserbrief um alle Rechtschreibfehler korrigiert an den Absender zurückgeschickt."
"Und das hat gewirkt?"
"Nein, eben nicht. Die Leute blieben hartnäckig und schrieben umso mehr. Als der durchschnittliche Leserbrief den Umfang von zwei Seiten überschritt, mussten wir zu energischen Maßnahmen greifen. Wir beleidigten die Schreiberlinge mit fiktiven Antwortbriefen, in denen wir durchblicken ließen, dass die Absender sich an kleinen Kindern vergreifen würden und in Rauschgiftgeschäfte in größerem Umfang beteiligt wären. Des weiteren denunzierten wir sie bei der Finanzverwaltung wegen Steuerhinterziehung durch unangemeldeten Fanzineverkauf."
"Und?"
"Brachte nichts. Aus den Gefängniszellen schrieben sie noch längere Leserbriefe als je zuvor. AN hätte nur noch aus Diskussionen bestanden. Da zogen wir die Notbremse. Wir bestachen den Briefträger."
"Den Briefträger?"
"Genau. Sobald jetzt ein Brief an die Redaktion geschickt wird, öffnet der Briefträger den Brief und verbrennt ihn unauffällig, falls es sich um eine Lesermeinung handeln sollte. Und wir können mit gutem Gewissen sagen, dass uns kein Leserbrief erreicht hat!"
"Faxe?"
"Landen direkt im Korb der Katze. Unleserliche Papierschnippsel"
"EMail?"
"Regelmäßiger Festplattencrash!"
"Und das hat funktioniert?"
"Ja, zwei Ausgaben lang. Dann hatten es die Leute geschnallt. In der nächsten Nummer erschienen die ersten Leserbriefe wieder."
"Wie das?"
"Einige findige SFCD-Mitglieder hatten die Druckerei ausfindig gemacht, und bei Nacht und Nebel im Rahmen eines Einbruchs die Offsetplatten ausgetauscht. Es war ein Schock für uns! Aber wir habens schließlich in den Griff bekommen."
"Ja?"
"Wir packen das Übel an der Wurzel. Die hartnäckigsten Schreiberlinge haben wir in unserer Notfallkartei. Durch regelmäßige Observation, dem Einsatz von Rollkommandos sowie exzessiver Anwendung des 3. Grades gelang es uns, auch noch die letzten Schlupflöcher zu stopfen. Kein Brief erreicht mehr den Briefkasten. Endlich ist Ruhe. Wir können wieder vernünftig arbeiten."
Im Hintergrund hörte man einen triumphierenden Schrei, als Stefan Manske unter der Einlegesohle von Frank Aussenstein einen Leserbrief entdeckte.
"Puuh, da haben wir noch einmal Glück gehabt."
Ich war beeindruckt. Dieser Einsatz sollte eigentlich nicht im verborgenen Bleiben, sondern die Anerkennung bekommen, die er verdient. Vielleicht sollte ich einen Leserbrief schreiben.

Klaus Marion

Cyberspace-Flip
4 cl Scotch
2 cl Kahlua
eine Zitronenscheibe
nach Bedarf Sodawasser

Scotch in Old Fashionedglas gießen, Kahlua hinzugeben, mit wenig Soda abspritzen und ein Stück Zitronenschale dazu.






Klaus Marion
Der Beitrag wurde am Mittwoch, 1. Juni 2011 veröffentlicht und wurde unter dem Topic Satiren Asimov-Keller-Bar abgelegt.
'Neues aus der Asimov-Keller-Bar: Leserbrief'

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