Der Apfelpflücker
von Klaus Marion.
Veröffentlicht in VorSicht 10/2016
Zu den Annehmlichkeiten eines kleinen Stückchen Gartengrüns hinter dem Haus gehört die Möglichkeit, durch Anpflanzen von Sträuchern und Bäumen für die kommenden Jahre die kostenfreie Versorgung mit allerlei leckeren Früchten sicherzustellen.
Auf einer ungenutzten Fläche hinter dem Haus hatten wir vor Jahren hoffnungsvoll einen kleinen Pfirsichbaum gepflanzt, der in Zukunft nach Aussagen des Verkäufers im Gartenmarkt die Familie mit „riesigen Mengen wohlschmeckender Pfirsiche“ versorgen würde.
Leider nahm der Baum diese Werbeaussage nicht weiter ernst. Jedes Jahr kämpfte das Bäumchen mit Ungeziefer, Blattkrankheiten und anderen Kalamitäten, die regelmäßig dafür sorgten, dass zur Herbstzeit keine leckeren Früchte, sondern lediglich größere Mengen an Herbstlaub den Baum umgaben. Nach einigen Jahren hatten wir dieses gärtnerisch unerfreuliche Scheitern akzeptiert und verwendeten den Baum in Folge als Befestigung für eine Hängematte.
Ob es an einer allgemeinen Klimaerwärmung oder dem feuchten Sommer lag: Meine Frau rief mich vor wenigen Wochen begeistert in den Garten und wies in die Höhe: „Schau Dir das an: Alles voller Pfirsiche! Die sehen reif aus! Wir sollten sie ernten!“
Tatsächlich. Ich holte die Haushaltsleiter und stieg hoffnungsvoll mit einem Korb in die Höhe. Leider erwies es sich, dass der Baum die letzten Jahre des wirtschaftlichen Wachstums zu eigenen Bemühungen in dieser Richtung genutzt hatte. Die leckeren Früchte befanden sich deutlich außerhalb der Reichweite meiner Arme. Meine Frau wusste Rat. „Kauf einen Obstpflücker!“
Im Baumarkt befragte ich einen kompetenten Mitarbeiter zu diesem Thema. Ein Obstpflücker, erfuhr ich aus beschlagenem Munde, ist eine Stange, an der am Ende ein Drahtring mit einem Stoffsäckchen befestigt ist. Man umfasst damit die Frucht, rüttelt, und schon fällt die Frucht sanft in das kleine Stoffsäckchen.
Obstpflücker gibt es, wie er mir erläuterte, als einfachen Holzstock mit Pflückeinrichtung für den unerfahrenen ambitionslosen Gartenanfänger, oder als Hightech-Entnahmeeinrichtung an einer mehrfach ausziehbaren Polykarbonschiene mit Teflonbeschichtung für den gebildeten und intelligenten Gartenprofi. Ich erwarb die Profiversion XXL mit extralanger Teleskopschiene und fuhr nach Hause.
Meine Frau betrachtete kopfschüttelnd die erworbene Pflückstange. Selbst im unausgezogenen Zustand überragte diese die Spitze unseres Baumes deutlich.
„Man kann damit aber ganz bequem von der Seite her pflücken! Schau mal!“
Ich teleskopierte die Stange auf ihre Maximallänge und senkte den Pflücker aus größerer Entfernung auf unser Pfirsichbäumchen hinunter. Leider erwies es sich, dass auch eine polycarbonierte Pflückstange im waagrechten Zustand ein erstaunliches hohes Gewicht aufweist. Ich verlor die Kontrolle über Situation und Stange, und der Apfelpflücker rauschte über den Zaun in die Bäume unseres Nachbarn.
„Hol das Ding wieder rüber!“ zischte meine Frau „Wir haben schon genug Ärger mit dem Nachbarn!“. Ich stimmte ihr zu. Ganz langsam und vorsichtig zog ich die im wuchernden Grün verschwundene Stange wieder zurück, den dabei mehrfach auftretenden Widerstand durch kräftigen Ruck überwindend. Endlich tauchte das Ende des Pflückers wieder auf unserer Seite der Grundstücksgrenze auf. Der kleine Pflückkorb war voll mit unterwegs eingesammelten Äpfeln und Birnen.
Meine Frau und ich sahen uns wortlos an. Dann starrten wir auf die nachbarlichen Grundstücke mit ihren Obstbäumen. Ungeahnte Möglichkeiten taten sich vor unserem inneren Auge auf…
Seit diesem Tag hat sich unsere Versorgungslage mit Frischobst und Gemüse stark verbessert. Unser Keller quillt über von Birnen, Quitten, Äpfeln und anderen Baumfrüchten.
Mit der Zeit wurden wir zu wahren Pflückprofis. Dabei wurde die Pflückstange bei Dämmerung waagrecht über die Grundstückgrenze geschoben, wobei der Zaun als natürliche Auflagefläche diente. Nach Anbringung einer kleinen Säge an unserem Pflückkorb gelang es uns, auch Schnittpflanzen, Kartoffeln, Bohnenstauden sowie Stachelbeeren in den Kreis der zu erntenden Gegenstände aufzunehmen. Die Anbringung eines kleinen Greifhakens erhöhte unsere Zugriffsmöglichkeiten weiter.
Aufgrund der Nähe einiger Gartenterrassen auf den umliegenden Grundstücken vergrößerte sich auch unser Bestand an Gartengeschirr, Blumenvasen, Serviettenhaltern und kleinere Tischdekorationen deutlich.
Einmal erwischen wir einen Gartenzwerg sowie, aufgrund eines Irrtums, eine getigerte Katze. Die Katze gaben wir zurück.
Wie wir erfuhren, ist der seltsame Schwund an Nutzobst in der gesamten Nachbarschaft ein Diskussionsthema. Ich gab mich betont unwissend und verwies auf die wie wissenschaftlich nachgewiesenen Anbauverluste durch räuberische Fledermäuse und Wildschweine.
Seit einigen Tagen haben wir jedoch ein merkwürdiges Phänomen in unserem Garten zu beobachten. Der Apfelbaum scheint große Mengen an Früchten verloren zu haben. Auch unser Pfirsichbaum wirkt plötzlich völlig leer. Vogelfraß? Ich wollte googeln, aber mein noch heute Nachmittag auf dem Gartentisch liegendes Smartphone ist auch nicht mehr aufzufinden.
Seltsam. Woher kann das nur kommen?
von Klaus Marion.
Veröffentlicht in VorSicht 10/2016
Zu den Annehmlichkeiten eines kleinen Stückchen Gartengrüns hinter dem Haus gehört die Möglichkeit, durch Anpflanzen von Sträuchern und Bäumen für die kommenden Jahre die kostenfreie Versorgung mit allerlei leckeren Früchten sicherzustellen.
Auf einer ungenutzten Fläche hinter dem Haus hatten wir vor Jahren hoffnungsvoll einen kleinen Pfirsichbaum gepflanzt, der in Zukunft nach Aussagen des Verkäufers im Gartenmarkt die Familie mit „riesigen Mengen wohlschmeckender Pfirsiche“ versorgen würde.
Leider nahm der Baum diese Werbeaussage nicht weiter ernst. Jedes Jahr kämpfte das Bäumchen mit Ungeziefer, Blattkrankheiten und anderen Kalamitäten, die regelmäßig dafür sorgten, dass zur Herbstzeit keine leckeren Früchte, sondern lediglich größere Mengen an Herbstlaub den Baum umgaben. Nach einigen Jahren hatten wir dieses gärtnerisch unerfreuliche Scheitern akzeptiert und verwendeten den Baum in Folge als Befestigung für eine Hängematte.
Ob es an einer allgemeinen Klimaerwärmung oder dem feuchten Sommer lag: Meine Frau rief mich vor wenigen Wochen begeistert in den Garten und wies in die Höhe: „Schau Dir das an: Alles voller Pfirsiche! Die sehen reif aus! Wir sollten sie ernten!“
Tatsächlich. Ich holte die Haushaltsleiter und stieg hoffnungsvoll mit einem Korb in die Höhe. Leider erwies es sich, dass der Baum die letzten Jahre des wirtschaftlichen Wachstums zu eigenen Bemühungen in dieser Richtung genutzt hatte. Die leckeren Früchte befanden sich deutlich außerhalb der Reichweite meiner Arme. Meine Frau wusste Rat. „Kauf einen Obstpflücker!“
Im Baumarkt befragte ich einen kompetenten Mitarbeiter zu diesem Thema. Ein Obstpflücker, erfuhr ich aus beschlagenem Munde, ist eine Stange, an der am Ende ein Drahtring mit einem Stoffsäckchen befestigt ist. Man umfasst damit die Frucht, rüttelt, und schon fällt die Frucht sanft in das kleine Stoffsäckchen.
Obstpflücker gibt es, wie er mir erläuterte, als einfachen Holzstock mit Pflückeinrichtung für den unerfahrenen ambitionslosen Gartenanfänger, oder als Hightech-Entnahmeeinrichtung an einer mehrfach ausziehbaren Polykarbonschiene mit Teflonbeschichtung für den gebildeten und intelligenten Gartenprofi. Ich erwarb die Profiversion XXL mit extralanger Teleskopschiene und fuhr nach Hause.
Meine Frau betrachtete kopfschüttelnd die erworbene Pflückstange. Selbst im unausgezogenen Zustand überragte diese die Spitze unseres Baumes deutlich.
„Man kann damit aber ganz bequem von der Seite her pflücken! Schau mal!“
Ich teleskopierte die Stange auf ihre Maximallänge und senkte den Pflücker aus größerer Entfernung auf unser Pfirsichbäumchen hinunter. Leider erwies es sich, dass auch eine polycarbonierte Pflückstange im waagrechten Zustand ein erstaunliches hohes Gewicht aufweist. Ich verlor die Kontrolle über Situation und Stange, und der Apfelpflücker rauschte über den Zaun in die Bäume unseres Nachbarn.
„Hol das Ding wieder rüber!“ zischte meine Frau „Wir haben schon genug Ärger mit dem Nachbarn!“. Ich stimmte ihr zu. Ganz langsam und vorsichtig zog ich die im wuchernden Grün verschwundene Stange wieder zurück, den dabei mehrfach auftretenden Widerstand durch kräftigen Ruck überwindend. Endlich tauchte das Ende des Pflückers wieder auf unserer Seite der Grundstücksgrenze auf. Der kleine Pflückkorb war voll mit unterwegs eingesammelten Äpfeln und Birnen.
Meine Frau und ich sahen uns wortlos an. Dann starrten wir auf die nachbarlichen Grundstücke mit ihren Obstbäumen. Ungeahnte Möglichkeiten taten sich vor unserem inneren Auge auf…
Seit diesem Tag hat sich unsere Versorgungslage mit Frischobst und Gemüse stark verbessert. Unser Keller quillt über von Birnen, Quitten, Äpfeln und anderen Baumfrüchten.
Mit der Zeit wurden wir zu wahren Pflückprofis. Dabei wurde die Pflückstange bei Dämmerung waagrecht über die Grundstückgrenze geschoben, wobei der Zaun als natürliche Auflagefläche diente. Nach Anbringung einer kleinen Säge an unserem Pflückkorb gelang es uns, auch Schnittpflanzen, Kartoffeln, Bohnenstauden sowie Stachelbeeren in den Kreis der zu erntenden Gegenstände aufzunehmen. Die Anbringung eines kleinen Greifhakens erhöhte unsere Zugriffsmöglichkeiten weiter.
Aufgrund der Nähe einiger Gartenterrassen auf den umliegenden Grundstücken vergrößerte sich auch unser Bestand an Gartengeschirr, Blumenvasen, Serviettenhaltern und kleinere Tischdekorationen deutlich.
Einmal erwischen wir einen Gartenzwerg sowie, aufgrund eines Irrtums, eine getigerte Katze. Die Katze gaben wir zurück.
Wie wir erfuhren, ist der seltsame Schwund an Nutzobst in der gesamten Nachbarschaft ein Diskussionsthema. Ich gab mich betont unwissend und verwies auf die wie wissenschaftlich nachgewiesenen Anbauverluste durch räuberische Fledermäuse und Wildschweine.
Seit einigen Tagen haben wir jedoch ein merkwürdiges Phänomen in unserem Garten zu beobachten. Der Apfelbaum scheint große Mengen an Früchten verloren zu haben. Auch unser Pfirsichbaum wirkt plötzlich völlig leer. Vogelfraß? Ich wollte googeln, aber mein noch heute Nachmittag auf dem Gartentisch liegendes Smartphone ist auch nicht mehr aufzufinden.
Seltsam. Woher kann das nur kommen?
Der Beitrag wurde am Sonntag, 26. März 2017 veröffentlicht und wurde unter dem Topic Satiren - VORSICHT abgelegt.
'Meine VorSicht-Satiren - Der Apfelpflücker'
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