Gefiederte Freunde
von Klaus Marion.
Veröffentlicht in VORSICHT 01/2013

"Der arme Vogel. Er hat Hunger!"
Meine Tochter zeigte auf eine kleine Meise, die im schneebedeckten Garten auf einem Ast saß und offensichtlich momentan nicht recht wusste, was sie mit dem restlichen Tag anfangen sollte.
Ich seufzte innerlich.
"Das ist halt die Natur. Die Vögel sind seit Jahrmillionen an das Wetter und den Winter angepasst. Die finden schon etwas! Solltest Du das nicht in Biologie gelernt haben?"
Die Meise war inzwischen weggeflogen.
Trotzdem gab mir das Gespräch zu denken. Hunger ist auch für einen Vogel keine nette Sache, und schließlich war es Weihnachtszeit. Ich beschloss, mit dem Lebensmittelhändler meines Vertrauens einen diesbezüglichen Gedankenaustausch zu starten.
"Ich hätte gerne einen Meisenknödel!"
Er drückte mir mit einem seltsamen Blick einen Viererpack dieses Futtermittel in die Hand. Auf meine Frage nach einer kleineren Packung drehte er sich einfach um. Ich frage mich, wo die allgemeine Höflichkeit geblieben ist.
Zuhause hängte ich die Knödel in einen Baum. Ich war zufrieden. Damit sollte der Vogel durch den harten Teil des Winters kommen.
Gegen Abend stellte ich fest, dass die Knödel verschwunden waren. Nur noch die grünen Netzhüllen hingen im Baum. Meine ersten Verdächtigungen gegenüber meinen Kindern erwiesen sich als trotz investigativer Verhörmethoden als nicht haltbar. Ich musste einräumen, dass das Futter offensichtlich gefressen wurde. Da kaum anzunehmen war, dass ein einzelner Vogel solche Mengen vertilgen konnte, hatte ich offensichtlich die Zahl der hungrigen Vögel unterschätzt. Tatsächlich: Im Garten saßen, auf verschiedene Bäume und Büsche verteilt, größere Zahlen von gefiederten Tieren und blickten eindeutig hungrig zum Haus.
Ich betrachtete es als eine meiner positiven Eigenschaften, bei erkannten Fehlern mich als lernfähig zu erweisen. Am nächsten Abend begab ich mich erneut zum Lebensmittelgeschäft und kaufte diesmal gleich fünf 4er-Packungen der Meisenknödel. Der Verkäufer vom Vortag blickte mich nur schweigend an.
Am gleichen Abend verteilte ich noch sämtliche Exemplare im Garten.
Als ich gegen Abend von der Arbeit kam, war die Hälfte der aufgehängten Nahrungsvorräte leer. In den Büschen im Garten schienen dafür große Mengen von Vögeln zu sitzen. Anscheinend hatte ich wirklich das Nahrungsmittelproblem der einheimischen Vogelwelt stark unterschätzt.
Um der Sache einen professionellen Anstrich zu geben, führte mich mein nächster Weg in ein nahegelegenes Zoofachgeschäft. Dort kaufte ich zwei Originalblister mit je 250 Meisenknödel. Der Verkäufer hörte sich interessiert meine Erlebnisse an und machte mich auf eine gedankliche Lücke aufmerksam.
"Sie müssen auch an die restliche Vogelwelt denken: Amseln, Stare, Finke, Rotkelchen. Die brauchen noch anderes Futter: Sonnenblumenkerne, Nüsse, Getreidekörner! Haben Sie auch geeignete, katzensichere Vogelhäuschen?" Der Mann war offensichtlich ein Profi.
Ich kaufte10 gemischte Futterkästen sowie verschiedene Hängebeutel für Nüsse und Getreideflocken.
Kaum 3 Stunden später glich unser Garten einem Schnellimbiss für die heimische Vogelwelt.
Am Wochenende hatte ich Gelegenheit, die Anziehungskraft unseres Futterangebots in der Praxis zu beobachten. In jedem Baum saßen hunderte von Vögeln. Raben kreisten über unserem Haus, Schwärme von Wildtauben wanderten durch das Gras. An den Futterkästen entspannen sich harte Kämpfe. Die Futtermittel reduzierten sich in einer unheimlichen Geschwindigkeit.
Meine Frau schüttelte den Kopf.
"Das sind die Vögel aus der gesamten Umgebung. Der Mann vom Vogelschutzbund hat mich darüber informiert, dass große Vogelschwärme aus südöstlicher Richtung gesichtet wurden. Ich glaube, das wächst uns über den Kopf."
Ich beruhigte sie. Das sind die Situationen, in denen es sich zeigt, aus welchem Holz man geschnitzt ist. Ich schickte meinen Sohn zur Nachschubbesorgung in den Fachhandel, während ich versuchte, weitere Futterstellen zu schaffen, um den erbitterten Kämpfen an den Vogelhäuschen Einhalt zu gebieten. Die reichhaltige Zahl von Vögeln hatte auch die nachbarschaftlichen Katzenwelt in unseren Garten gelockt, und wenn nicht gelegentlich herabstoßende Sperber die Zahl der vierpfötigen Jäger deutlich reduziert hätten, es wäre sicherlich zu einem Vogelmassaker gekommen.
Mein Nachbar informierte mich darüber, dass er bereits einzelne Papageien und Singsittiche gesichtet hätte. Der Himmel verdunkelte sich aufgrund der kreisenden Vogelschwärme immer mehr. Angeblich hatte die Flugsicherheit eine Vogelwarnung für unser Gebiet ausgegeben und leitete Flugzeuge großflächig um. Während ich das Vogelfutter nachfüllte, saßen auf meinem Kopf bereits ein Dutzend hungrige Tiere. Ein Adler schlug den Pudel des Nachbarn.
Die Lage beruhigte sich in den nächsten Tagen langsam. Ich schloss einen Exklusivvertrag mit einem Zoo- Lieferanten. Die tägliche Anlieferung von 6 Doppelzentnern Futtermitteln wurde von zwei auf Basis einer ABM-Maßnahme angestellten Hilfskräften gleichmäßig im Garten ausgebracht.
Wir trugen uns mit dem Gedanken, einen Vogelpark zu eröffnen und nahmen bereits probehalber Eintrittsgeld von den Nachbarkindern.
Und dann passierte es. Der Schnee war weg. Und auch die Vögel. Kein einziger ließ sich mehr sehen.

Wie ich schon meiner Tochter sagte: Die Natur regelt das schon selber.
Der Beitrag wurde am Freitag, 10. Mai 2013 veröffentlicht und wurde unter dem Topic Satiren - VORSICHT abgelegt.
'Gefiederte Freunde - Satire in VorSICHT 01/2013'

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