Der Fluch
von Klaus Marion.
Veröffentlicht in VORSICHT 5/2012
Ich gehöre, das möchte ich hier in aller Offenheit betonen, zu einem recht durchschnittlichen und durchaus weitverbreiteten Typ des sportlich interessierten Fußballfans.
Hatte ich in meiner Kindheit noch so manchen Nachmittag statt vor den Hausaufgaben auf dem Bolzplatz um die Ecke verbracht, so beschränkte sich meine spätere Begeisterung für das Spiel mit der runden Lederkugel mehr auf die kursorische Betrachtung der Sportschau und des damit verbunden Auf und Ab meiner Lieblingsmannschaft. Das Ansehen von Fußballspielen live im Stadium war nie so meine Sache gewesen, was die Betrachtung von Spielen über die volle Spielzeit auf Länderspiele oder Weltmeisterschaften reduzierte.
Schon da begann ein erster, schrecklicher Verdacht in mir zu reifen, der aber seine volle Bestätigung erst nach der Abonnierung gewisser Privatsender fand, bei denen man auch Bundes- und Europaligaspiele in voller Länge live verfolgen kann.
Es war vor einiger Zeit, als mich der morgendliche Satz eines Kollegen bei der Arbeit die ganze Dramatik der Situation erkennen ließ:
„Das Spiel der Deutschen gestern, hast Du gesehen, wie der Konter von links außen über die ganze Tiefe des Raumes ging? Dann nach rechts und volley in den Kasten! Das war ein Tor!!“
Und hier wurde es mir klar: Ich sehe keine Tore.
Ich möchte das relativieren: Natürlich sehe ich Tore. Jeden Gegentreffer, den eine von mir favorisierte Mannschaft erhält, beobachte ich vom schauerlichen Augenblick seiner Entstehung bis zum tödlichen Torschuss in voller Länge. Mit aufgerissenen Augen starre ich dem Untergang entgegen, kann geradezu das Wachsen der Niederlage hören. Dazu dann 5 Wiederholungen in Zeitlupe, versehen mit niederschmetternden Bemerkungen der Kommentatoren. Aber die Treffer der eigenen Mannschaft? Da bin ich beim Totschuss irgendwie nie dabei.
Ein hart umkämpftes Spiel meiner bevorzugten Mannschaft auf europäischer Ebene: Die Zeitungen berichten schon Tage vorher in umfangreicher Berichterstattung, ich sitze vor dem Fernseher. Das Spiel wogt hin und her, Torchancen hier, Totchancen dort. Ich leide. Mein rechter Fuß versucht bei jedem Dribbling, den Ball eigenständig am Gegner vorbeizuschieben und einen Torschuss vorzubereiten (was in der Vergangenheit schon zu bedauerlichen Schienbeinverletzungen bei anwesenden Gästen geführt hat). Ich schwitze vor Spannung, ich kann nicht mehr. Ich greife zur auf dem Boden stehenden Bierflasche, blicke nach einem Öffner suchend nach links und rechts, finde ihn…
„Toooooor!!!!!“ Der Reporter bekommt einen hysterischen Anfall. Ich blicke erschreckt nach oben und sehe nur noch einen jubelnden Haufen von Fußballspielern. Das Tor ist gefallen. Und ich habe es nicht gesehen.
Natürlich freue ich mich darüber, dass wir führen. Aber es wäre eindeutig schöner gewesen, ich hätte das Entstehen des Spielzugs miterleben dürfen. Den Aufbau der Spannung, die Erlösung, wenn der Ball blitzartig die Torlinie überschreitet. So wie 5 Minuten später der Ausgleichstreffer.
Frustriert renne ich in die Küche, um mir schnell ein belegtes Brot zu holen. Ich komme zurück: 2:1. Der Kommentator schwärmt über die geniale Vorbereitung des Treffers.
Frust. Jetzt kann ich auch noch schnell aufs Klo gehen. Ich komme wieder: 3:1. Freudentaumel der Zuschauer, der Spieler, aller Nachbarn in der Umgebung.
Klar sehe ich die Tore in der Zusammenfassung. Aber das ist so, als ob man am nächsten Tag eine Aufzeichnung eines Spieles anschaut. Es ist ja schon alles passiert.
Während der letzten WM fiel dieses seltsame Phänomen sogar meiner Familie auf: Bei jedem knappen Spiel der deutschen Mannschaft versuchte der sonst fußballmäßig eher zurückhaltende Teil meiner Familie, durch raffinierte Taktik den richtigen Spielverlauf zu erzwingen. Während mein Sohn durch vorgetäuschte Fußverletzungen mich zu einem eigenständigen Holen von Getränken aus dem Keller animieren wollte, schenkte mir meine Tochter in umkämpften Spielen große Mengen an Flüssigkeiten in mein Glas, um durch erzwungene Toilettengänge den Begegnungen die entscheidende Wende zu geben.
Viele Spiele lang funktionierte dies hervorragend: Mit dem Hund rausgehen, das klingelnde Telefon annehmen, das Läuten an der Haustür: Kaum blicke ich zur Seite, fällt das entscheidende Tor. Sieg! Ein Blick zu den auf dem Nebentisch stehenden Knabbereien: Flanke-Tor-Gewinn! Nur im Halbfinale gelang es mir, das ganze Spiel mal ohne Unterbrechung anzusehen. Das Ergebnis ist bekannt, Deutschland nicht im Finale. Meine Familie sprach wochenlang nicht mehr mit mir.
Dabei kann ich das Phänomen nicht willentlich beeinflussen. Bei uninteressanten Spielen fallen die Tore wie sie wollen: Mit oder ohne mich. Auch der Versuch, ein Tor durch absichtliches Verlassen des Raumes zu provozieren, ist nicht von Erfolg gekrönt. Nur bei Spielen, die ich wirklich sehen will, fallen die Tore ohne meine Anwesenheit.
In der Rückrunde der Bundesliga hatte ich schließlich beschlossen, den Fluch zu brechen. Wenn ich wirklich konzentriert auf den Bildschirm starre und mich nicht ablenken lasse, dann müssen die Tore doch irgendwann fallen? Ich bereitete mich durch Zen-Meditation auf die Spiele vor, übte das Starren ohne Blinzeln und verzichtete aus Sicherheitsgründen auf jegliche Flüssigkeitszufuhr in den 48 Stunden vorher. Und der Erfolg? Es fallen keine Tore mehr, und Bayern München wird nicht Deutscher Meister.
Ich kapituliere.
Habe mit Uli Hoeneß Kontakt aufgenommen und angeboten, gar keine Spiele seines Vereins mehr anzusehen. War sehr interessiert. Über die Bezahlung wird momentan noch verhandelt.
von Klaus Marion.
Veröffentlicht in VORSICHT 5/2012
Ich gehöre, das möchte ich hier in aller Offenheit betonen, zu einem recht durchschnittlichen und durchaus weitverbreiteten Typ des sportlich interessierten Fußballfans.
Hatte ich in meiner Kindheit noch so manchen Nachmittag statt vor den Hausaufgaben auf dem Bolzplatz um die Ecke verbracht, so beschränkte sich meine spätere Begeisterung für das Spiel mit der runden Lederkugel mehr auf die kursorische Betrachtung der Sportschau und des damit verbunden Auf und Ab meiner Lieblingsmannschaft. Das Ansehen von Fußballspielen live im Stadium war nie so meine Sache gewesen, was die Betrachtung von Spielen über die volle Spielzeit auf Länderspiele oder Weltmeisterschaften reduzierte.
Schon da begann ein erster, schrecklicher Verdacht in mir zu reifen, der aber seine volle Bestätigung erst nach der Abonnierung gewisser Privatsender fand, bei denen man auch Bundes- und Europaligaspiele in voller Länge live verfolgen kann.
Es war vor einiger Zeit, als mich der morgendliche Satz eines Kollegen bei der Arbeit die ganze Dramatik der Situation erkennen ließ:
„Das Spiel der Deutschen gestern, hast Du gesehen, wie der Konter von links außen über die ganze Tiefe des Raumes ging? Dann nach rechts und volley in den Kasten! Das war ein Tor!!“
Und hier wurde es mir klar: Ich sehe keine Tore.
Ich möchte das relativieren: Natürlich sehe ich Tore. Jeden Gegentreffer, den eine von mir favorisierte Mannschaft erhält, beobachte ich vom schauerlichen Augenblick seiner Entstehung bis zum tödlichen Torschuss in voller Länge. Mit aufgerissenen Augen starre ich dem Untergang entgegen, kann geradezu das Wachsen der Niederlage hören. Dazu dann 5 Wiederholungen in Zeitlupe, versehen mit niederschmetternden Bemerkungen der Kommentatoren. Aber die Treffer der eigenen Mannschaft? Da bin ich beim Totschuss irgendwie nie dabei.
Ein hart umkämpftes Spiel meiner bevorzugten Mannschaft auf europäischer Ebene: Die Zeitungen berichten schon Tage vorher in umfangreicher Berichterstattung, ich sitze vor dem Fernseher. Das Spiel wogt hin und her, Torchancen hier, Totchancen dort. Ich leide. Mein rechter Fuß versucht bei jedem Dribbling, den Ball eigenständig am Gegner vorbeizuschieben und einen Torschuss vorzubereiten (was in der Vergangenheit schon zu bedauerlichen Schienbeinverletzungen bei anwesenden Gästen geführt hat). Ich schwitze vor Spannung, ich kann nicht mehr. Ich greife zur auf dem Boden stehenden Bierflasche, blicke nach einem Öffner suchend nach links und rechts, finde ihn…
„Toooooor!!!!!“ Der Reporter bekommt einen hysterischen Anfall. Ich blicke erschreckt nach oben und sehe nur noch einen jubelnden Haufen von Fußballspielern. Das Tor ist gefallen. Und ich habe es nicht gesehen.
Natürlich freue ich mich darüber, dass wir führen. Aber es wäre eindeutig schöner gewesen, ich hätte das Entstehen des Spielzugs miterleben dürfen. Den Aufbau der Spannung, die Erlösung, wenn der Ball blitzartig die Torlinie überschreitet. So wie 5 Minuten später der Ausgleichstreffer.
Frustriert renne ich in die Küche, um mir schnell ein belegtes Brot zu holen. Ich komme zurück: 2:1. Der Kommentator schwärmt über die geniale Vorbereitung des Treffers.
Frust. Jetzt kann ich auch noch schnell aufs Klo gehen. Ich komme wieder: 3:1. Freudentaumel der Zuschauer, der Spieler, aller Nachbarn in der Umgebung.
Klar sehe ich die Tore in der Zusammenfassung. Aber das ist so, als ob man am nächsten Tag eine Aufzeichnung eines Spieles anschaut. Es ist ja schon alles passiert.
Während der letzten WM fiel dieses seltsame Phänomen sogar meiner Familie auf: Bei jedem knappen Spiel der deutschen Mannschaft versuchte der sonst fußballmäßig eher zurückhaltende Teil meiner Familie, durch raffinierte Taktik den richtigen Spielverlauf zu erzwingen. Während mein Sohn durch vorgetäuschte Fußverletzungen mich zu einem eigenständigen Holen von Getränken aus dem Keller animieren wollte, schenkte mir meine Tochter in umkämpften Spielen große Mengen an Flüssigkeiten in mein Glas, um durch erzwungene Toilettengänge den Begegnungen die entscheidende Wende zu geben.
Viele Spiele lang funktionierte dies hervorragend: Mit dem Hund rausgehen, das klingelnde Telefon annehmen, das Läuten an der Haustür: Kaum blicke ich zur Seite, fällt das entscheidende Tor. Sieg! Ein Blick zu den auf dem Nebentisch stehenden Knabbereien: Flanke-Tor-Gewinn! Nur im Halbfinale gelang es mir, das ganze Spiel mal ohne Unterbrechung anzusehen. Das Ergebnis ist bekannt, Deutschland nicht im Finale. Meine Familie sprach wochenlang nicht mehr mit mir.
Dabei kann ich das Phänomen nicht willentlich beeinflussen. Bei uninteressanten Spielen fallen die Tore wie sie wollen: Mit oder ohne mich. Auch der Versuch, ein Tor durch absichtliches Verlassen des Raumes zu provozieren, ist nicht von Erfolg gekrönt. Nur bei Spielen, die ich wirklich sehen will, fallen die Tore ohne meine Anwesenheit.
In der Rückrunde der Bundesliga hatte ich schließlich beschlossen, den Fluch zu brechen. Wenn ich wirklich konzentriert auf den Bildschirm starre und mich nicht ablenken lasse, dann müssen die Tore doch irgendwann fallen? Ich bereitete mich durch Zen-Meditation auf die Spiele vor, übte das Starren ohne Blinzeln und verzichtete aus Sicherheitsgründen auf jegliche Flüssigkeitszufuhr in den 48 Stunden vorher. Und der Erfolg? Es fallen keine Tore mehr, und Bayern München wird nicht Deutscher Meister.
Ich kapituliere.
Habe mit Uli Hoeneß Kontakt aufgenommen und angeboten, gar keine Spiele seines Vereins mehr anzusehen. War sehr interessiert. Über die Bezahlung wird momentan noch verhandelt.
Der Beitrag wurde am Freitag, 19. Oktober 2012 veröffentlicht und wurde unter dem Topic Satiren - VORSICHT abgelegt.
'Der Fluch - Satire in VorSICHT Mai 2012'
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