Kneipenterror
von Klaus Marion.

Veröffentlicht in VORSICHT 1/2011


Früher war das alles ganz einfach: Man ging in die Kneipe, bestellte solange Bier, bis man genug hatte und ging dann nach Hause. Doch diese Zeiten sind leider vorbei.

Ich traf Rudi in meinem Lieblingslokal. Er saß an einem Ecktisch und winkte mir zu. Während ich mich niederließ, fragte schon eine der Bedienungen nach meinen Wünschen.
"Ich nehm' dann mal ein großes Pils"
Rudi trat mich unter dem Tisch und räusperte sich prononciert.
"Er nimmt ein kleines Bier. Klein!" Die Bedienung tippte auf ihrem elektronisches Bestellblock und verschwand. Rudi fixierte mich mit einem strafenden Blick.
"Ein großes Bier. Bist Du verrückt?"
"Ja, ich weiß, der Alkohol. Und dann das Autofahren. Und die Leber..."
"Quatsch, wen interessiert denn das? Nein, was ich meine: NIEMALS große Getränke bestellen. Sonst wirst Du ein Opfer von TRINK!"
"Äh...?"
"Trinktechnische Informationssoftware nachhaltiger Kneipenbewirtschaftung. TRINK. Es ist eine Verschwörung"
"Du meinst, Ufos haben die Kneipe übernommen..." Ich rückte vorsichtig von ihm ab.
"Blödsinn. Das ist ein Softwaresystem zur Effizienzsteigerung in Lokalen. Woran verdient eine Kneipe?"
"An den Gästen?"
"Nein, an den konsumierten Getränken! Und mit den heutigen elektronischen Bestellsystemen weiß der Chef jederzeit genau, wie viel Umsatz momentan ein Tisch gemacht hat. Ein schlecht trinkender Gast bedeutet keinen Gewinn."
"Und deswegen darf ich nichts mehr trinken?"
"Noch ein Bier für Sie?"
Ich trank mein vor mir stehendes Bier leer und nickte.
"Siehst Du!" zischte Rudi, "dass meine ich! Kaum wird Dein Glas leer, steht sofort jemand auf der Matte und fragt Dich nach einer weiteren Bestellung. Was glaubst Du, was da für eine Rechnungssumme herauskommt, wenn Du dem widerstandslos nachgibst? Da wartet Harz IV! Deswegen gebe ich jetzt auch Volkshochschulkurse in aktiver TRINK-Abwehr."
Ich dachte nach. In letzter Zeit waren die Bedienungen tatsächlich auffallend bemüht gewesen, durch Nachfragen weitere Getränkewünsche zu befriedigen.
"Eben! Es ist ein Kampf. Zwar können Sie Dich nicht wirklich zwingen, noch etwas zu bestellen, aber schließlich behältst Du Deinen Tisch auch nur, wenn Du noch was am trinken bist.
Erste Regel: Jedes Getränk erkauft Dir 15 Minuten. Nach Ablauf der Zeit blinkt auf den Bestell-Organizern eine Warnlampe und man erkundigt sich nach weiteren Getränken bei Dir. Deshalb: immer kleine Getränke bestellen. Zwar sind die teurer, Du erkaufst Dir aber das doppelte an Sitzzeit an Deinem Tisch."
"Na, dann trinke ich einfach mein Glas nicht aus."
"Na, das geht ja auch nicht. Du musst schon den Eindruck erwecken, dass Du am trinken bist. Also immer wieder einen winzigen Schluck nehmen. Wirklich winzig. Durch cleveres short-nipping können Profis die Spanne bis zu einer Getränkeneubestellung auf bis zu 45 Minuten ausdehnen. In meiner VHS-Kursen empfehle ich übrigens, beim Vorbeikommen der Bedienung demonstrativ einen großen Schluck zu nehmen und diesen dann im Anschluss wieder in das Glas zurück gleiten zu lassen!"
"Na Ihr beiden Hübschen? Vielleicht zwischendurch einen Milchkaffee?" Eine gut aussehende Bedienung beugte sich sehr tief über unseren Tisch. "Öh, ja, warum nicht..."
"NEIN. Wir möchten momentan nichts. DANKE!"
Rudi fixierte mich strafend. "Bist Du verrückt? Der alte "Holz-vor-der Hütte-Trick", und Du bestellst einfach was? Ist doch klar, dass die bei hartnäckigen Fällen die charmanteste Bedienung schicken. Da habe ich schon Schreckliches erlebt. Lokalrunden, Schampus für alle. Finanzieller Ruin. Du musst hart bleiben!" Er schüttelte bestimmend den Kopf, und eine gut aussehende männliche Bedienung verschwand wieder im Hintergrund "Die arbeiten mit allen Tricks! Pass auf, gleich kommt der unter Fachleuten als "Erdnuss-Gambit" bekannte Eröffnungszug."
"Ich stell Euch ein paar Erdnüsse hin!"
"Ha! Salzige Erdnüsse, da steigt der Trinkkonsum. Aber nicht mit uns. Lass die Finger weg! Niemals was essen!"
"Kann ich Euch noch etwas bringen?" Diesmal war es der Chef selber, der an den Tisch trat. Sein Blick war starr, er blickte auf mein nur noch halbvolles Glas. Ich schüttelte verschämt den Kopf.
"Dein Kumpel hat noch was?" Er schaute etwas irritiert und verschwand. Rudi grinste.
"Das hat ihn verwirrt. Ich fülle mein Glas immer wieder mit Leitungswasser aus der Herrentoilette auf. Damit erweitere ich meine Trinkzeit auf bis zu 53 Minuten. Oha, jetzt wird es ernst! Zeitalarm wurde ausgelöst"
"Rudi, ich habe aber Durst und Hunger!"
"Jetzt bloß nicht schwach werden!"
Ich konnte in einem Spiegel erkennen, dass der Chef einer Bedienung ungeduldige Handbewegungen in unsere Richtung machte.
"Pass auf. Jetzt zeigt sich der echte Profi."
"Was möchtet Ihr noch..." In diesem Moment brach Rudi mit einem lauten Röcheln zusammen, griff sich theatralisch ans Herz, wälzte sich konvulsivisch zuckend am Boden und formte mit den Lippen lautlos das Wort "Notarzt". Er blinzelte mir kurz zu.
Während der herbeigerufene Sanitäter ihn auf eine Krankenbahre schnallte, hob er triumphierend den Daumen und wurde nach draußen getragen. Er hatte tatsächlich nichts mehr bestellt.
"Möchten Sie noch was haben?"
"Ein Bier. Groß. Ach, machen Sie gleich zwei"
Ich starrte nach draußen.
"Zahlt dann später mein Kumpel"
Der Beitrag wurde am Donnerstag, 14. April 2011 veröffentlicht und wurde unter dem Topic Satiren - VORSICHT abgelegt.
'VORSICHT Satire Januar 2011'

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