SPIN Robert Charles Wilson
Sprache: Englisch
Taschenbuch: 454 Seiten
Verlag: Tor Books, N.Y.; Auflage: Reissue (Februar 2006)
ISBN-10: 076534825X
ISBN-13: 978-0765348258

Sprache: Deutsch
Broschiert: 555 Seiten
Verlag: Heyne (August 2006)
ISBN-10: 3453522001
ISBN-13: 978-3453522008

Meine Wertung: Wertung: 4 von 5 Sternen

SPIN von Robert Charles Wilson ist der Hugo Award Gewinner von 2006, einem der zwei großen SF-Literaturpreise (mehr zu diesem Thema
hier) in den USA. Nach meinen bisherigen Erfahrungen hat die Science Fiction Literatur gerade in den letzten 20 Jahren in Bezug auf Qualität und Originalität einen enormen Aufschwung genommen, und so hat man eine gute Chance, anhand der Liste der Preisträger dieser Jahre auch wirklich gute Literatur in die Finger zu bekommen.

Dabei wird dieses Buch dermaßen hoch gelobt, dass ich mich entschlossen habe, es im amerikanischen Original zu lesen - ein Umstand, der die Messlatte deutlich höher hängt: Ein schlechter Roman kann ich in der deutschen Übersetzung an 3 Abenden abhaken, in Englisch kostet es mich ein paar Tage länger; da wird man empfindlich, wenn alles nur vergeudete Zeit ist.

Als erstes fiel mir auf dem Backcover ein Zitat aus LOCUS auf:
"SPIN is many things: psychological novel, technological thriller, apocalytic picaresque, cosmological meditation. But it is, foremost, the first majo SF novel of 2005, another triumpf for Robert Charles Wilson (...)"

Aha.
Nun ist es für einen Science Fiction Roman keine schlechte Sache, mehr als nur SF zu sein. Jahrzehntelang war die technisch/phantastische Literatur viel zu sehr reine Gadget-Stories. Geschichten und Bücher über was-wäre-wenn-Szenarien. Diese Bücher waren zum Teil sehr intelligente Interpolationen über das beliebte Was-bedeutet-das Thema, bei denen Erfindungen, technische Veränderungen oder besondere Ereignisse in ihren Konsequenzen durchgespielt werden. Leider waren für viele der Autoren die menschlichen Figuren und Charaktere nur reine Bühnenstaffage. Wenn es nicht grundsätzlich skurile Professoren oder verrückte Wissenschaftler waren, reiten sich oft hölzerne Charaktere an unfreiwillig komische Dialoge. Damit entwerteten die Autoren natürlich auch den Erkenntnisgewinn, den eine intelligente Simulation von zukünftigen Entwicklungen für den Menschen in der heutigen Zeit zu erbringen vermag.
Zur Entschuldigung der schreibenden Zunft der damaligen Jahre mag aber auch angemerkt sein, dass Autoren von SF-Romanen nur in wenigen Fällen ein vernünftiges Auskommen hatten, und die Wertschätzung der Literaturszene für sie noch geringer als die für Westernromanautoren war.

Dazu kam die fehlende Einsicht, dass zukünftige Entwicklungen nie monokausal sind: Eine Erfindung wurde in die Zukunft extrapoliert, ohne die anderen Bereiche mit zu entwickeln. Und so entstanden skurile Zukunftswelten, in den es zwar ein Unsterblichkeitsserum gibt, aber die Leute immer noch Schwarzweißfernsehen hatten und Volksmusik die beliebteste Musikrichtung junger Leute. Eine Zukunft, die die Veränderungen aufgrund einer einzigen technischen Entwicklung beleuchten will, darf nicht übersehen, dass natürlich die Entwicklung in allen Gebieten voranschreitet, mag es die Medizin, Genetik, Politik oder Gesellschaft sein.
Ein weiterer, wirklichen Quantensprung auf dem Weg zur guten Literatur war, dass die Autoren der siebziger, achtziger und neunziger Jahren lernten, dass der Mensch der Mittelpunkt der Erkenntnis sein muss, und dass zu guter SF-Literatur mehr gehört als nur die Idee für eine zukünftige Veränderung.

100 Jahre phantastische Literatur hat so viele Ideen und Varianten der zukünftigen Entwicklungen durchgespielt, dass die Luft für wirklich neue Ideen im Bereich der Science Fiction doch sehr eng geworden ist. Und es sind nur wenig Autoren, die hier Meilensteine setzen konnten. John Varleys Romane, die in den sechzigern und siebszigern die gewollten Veränderungen der Menschen an sich selber durch Chirurgie und genetische Modifikationen vorausahnten.
Die Cyberspace-Romane von xxx, der die virtuelle Welten und die Welt der Computerhacker, der Technik-Punks und die Zukunft einer Welt der globalen Konzerne erforschte, bevor diese erst Jahre später Realität wurden. Und natürlich xxx, dem Informatikprofessor aus xxx, der mit seinem ein Feuer auf der Tiefe die Welt der Diskussionsforen und des Internets in die Kommunikation der ganzen Galaxis verplanzte, und der sehr intelligent über die Entwicklung der Programmierung und Software spekulierte (und den Begriff des Software-Archäologen prägte.

Wie gesagt, es ist schwierig für einen Autor, wirklich neue Pfade zu beschreiten.
Hat doch die SF im Gegensatz zur Phantasy doch die Bürde zu tragen, dass mehr grundsätzliche Gesetze der Natur einzuhalten sind - auch wenn vielleicht das eine oder andere Naturgesetz in Frage gestellt werden darf (Lichtgeschwindigkeit?)




Und hier setzt der geniale Dreh der Handlung dieses Buches an:
Es beginnt in einer kühlen Herbstnacht in unserer Zeit, als die Hauptdarsteller, zwei Geschwister und der befreundete Ich-Erzähler Tyler Dupree, in den Himmel blicken und miterleben, wie die Sterne und der Mond verschwinden - um nicht mehr wieder zukehren. In einem plötzlichen Moment ist die Erde von einem Kraftfeld eingehüllt, dass den Blick in den Weltraum versperrt. Nur die Sonne scheint sich völlig unverändert am Himmel zu bewegen. Doch auch dass stellt sich als eine Illusion heraus, ist diese "Sonne" doch in Wirklichkeit nur eine Projektion am Himmel des künstlich erzeugten Kraftfeldes, denn der eigentliche Effekt ist eine Verlangsamung der Zeit auf der Erde. Während auf der Erde nur Minuten vergehen, sind außerhalb des Kraftfelds Jahrhunderte vergangen. Bald wird der Menschheit klar, dass ihr nur noch wenige Jahrzehnte verbleiben, bevor die Sonne sich zum roten Riesen ausdehnt und die Erde verschluckt
Welche Lebewesen haben diesesKraftfeld erzeugt? Warum ist es entstanden?
Die Geschichte, zwischen der Vergangenheit, dem beginn des SPIN, und einer bis zum Ende unklaren Gegenwart 30 Jahre später wechselnd, bietet dem Autor eine antemberaubende Spielwiese: Eine Terraformierung des Mars? Plötzlich möglich: Die Bakterien sähenden Raketen werden gestartet - und zwei Jahre später subjektiver Erdzeit sind auf dem Mars Jahrmillionen vergangen. Die Aussendung von freiwilligen Siedlern auf dem bewohnbar gemachten NAchbarplaneten folgt ein Jahr später die Rückkehr eines Nachfahren der Siedler: Abertausende Generationen der Marsbewohner später.
Schwindelerregende Space-Opera.
Leider hält der Roman nicht das, was er auf den ersten zweihundert Seiten mit Spannung und Ideen verspricht. Wilson will zuviel. Porträt einer Menschheit, deren letzte Generation angebrochen ist: religiöser Wahn, Anarchie, Resignatismus: Tausend Seiten könnte man mit einer deratigen Fiktion füllen - die Möglichkeiten und Projektionen werden vom Autor jedoch nur gestreift und auf religiösen Wahn reduziert. Der Roman ist gleichzeitig als unerfüllte Liebesgeschichte zweier Hauptpersonen angelegt, un hier ist der Roman, ungewöhnlich für SF-Literatur, am tiefsten und qualitativ am besten. Die Idee der menschlichen Marsbewohner ist genial, wird jedoch nur angerissen, der Tod des Marsbotschafters wirkt seltsam aufgesetzt in der Handlung, so als habe der Schreiber die Lust an seiner Idee verloren. Plötzlich sind die Marsbewohner nur noch das literarische Handlungsvehikel für die Erzeugung einer selbstreproduzierenden Spezies von Mikrocomputer, Nanobots, die ebenfalls in den Weltraum geschickt werden.
Dazu noch die Idee einer lebensverlängernden Droge, die mit Bio-Nanobots Schäden im Körper repariert und zu einer subtilen Bewußtseinveränderung führt. Der Schluss, der die Handlung fast im Schweinsgalopp zu einem Ende führt, führt danach die Idee des "Archways" ein, einem Tor zu anderen Welten, die irgendwie über eine Art Dimensionspfad miteinander verbunden sind.
Das Buch ließ mich seltsam ratlos zurück. Es kommt nicht oft vor, dass ein Roman daran krankt, zu viele Ideen auf einmal zu beackern - dieser Roman tut es. Auf 1000 Seiten wäre es vielleicht möglich gewesen, die Vielzahl von ideen halbwegs harmonisch zusammenzufügen, nicht aber auf gerade mal 380.
Der Roman macht den Eindruck, dass eine wohlkonstruierte und menschlich tiefschürfende Handlung, die übrigens handwerklich hervorragend in Szene gesetzt wird, dem Autor irgendwann über den Kopf wuchs, und er das Buch bei der laut Vertrag maximal abzuliefernden Seitenzahl zu Ende bringen musste. Auf Kosten von einem Dutzend Ideen, aus denen man mit jeder alleine einen dicken (und wahrscheinlich besseren) Roman hätte füllen können.
So wird leider die Möglichkeit für einen Giganten der SF-Literatur verschenkt. Was bleibt ist ein überdurchschnittliches Buch, was aber leider in diesem Fall viel zu wenig ist.

P.S. Sollte natürlich dieser Roman der Auftakt zu einer Vielzahl von Romanen werden, die in diesem vom Autor geschaffenen Handlungsuniversum spielen sollen, dann wäre hier eine mögliche Erklärung für die nicht zu Ende geführten Handlungsstränge gefunden. In diesem Falle bliebe mir nur zu wünschen, dass diese Fortsetzungen bald folgen sollten.
Der Beitrag wurde am Freitag, 7. September 2007 veröffentlicht und wurde unter dem Topic Buecher abgelegt.
'Buchbesprechung: SPIN von Robert Charles Wilson'

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