Der nachfolgende Artikel stammt aus der Vortragsreihe "SF-Literatur heute" in der Asimov-Kellerbar
(Facebook-Gruppe: Asimov-Kellerbar)
www.asimov-kellerbar.de
SF-Kurzgeschichten und das Picknick auf Nearside
von Klaus Marion
Liebe Zuhörer, ich bin ein Liebhaber von Science Fiktion Kurzgeschichten - schon seit meiner frühester Jugend haben mich diese fasziniert und begeistert. Besonders in ihrer extremsten Form, der amerikanischen Short-Story, mit ihrer für die SF gültigen Beschränkung auf maximal 7.500 Wörter, ist sie mir immer (falls gut geschrieben) ein besonderes Erlebnis gewesen.
Ihre kompakte Form und ihre zwangsläufige Beschränkung auf die Essenz einer Geschichte haben es mir schon immer angetan.
Ungezählte Bände mit Sammlungen angelsächsischer Kurzgeschichten in Form von Heynes "The Best of Magazine of Fantasy & Science Fiktion", Ullsteins "Science Fiktion Stories"-Reihe oder auch die "Best of Isaac Asimovs SF-Magazin" prägten meine Vorlieben - und auch meinen eigenen Stil des Schreibens.
Kurzgeschichten schreiben, besonders im Bereich der Science Fiktion, ist für den Autor eine schwierige Sache.
Eine gute SF-Story benötigt eine Idee, einen Plot, Charaktere, eine Komposition. Das sind die gleichen hohen Anforderungen, die auch an ein ganzes Buch gestellt werden - nur alles viel dichter und kompakter. Und so kann eine gut gemachte Kurzgeschichte literarisch ein herausragendes Erlebnis sein, finanziell ist sie für einen Autor (der nach Wörtern bezahlt wird) eine Katastrophe: Davon können SF-Autoren nicht leben.
John Varley (auf den wir später noch ausführlicher kommen werden) schreibt in seiner 2004 erschienenen Sammlung von kommentierten Kurzgeschichten "The John Varley Reader", dass er in der Anfangszeit seines Schaffens pro Monat ein, maximal zwei Geschichten schreiben (und verkaufen!) konnte. Seine Familie zu ernähren war ihm damit aber nicht möglich.
Vielleicht ist unter diesen Gesichtspunkten der Mangel an Möglichkeiten, in Deutschland SF in dieser Form zu verkaufen, nicht einmal so negativ zu sehen.
Auf der anderen Seite verhält es sich in diesem Bereich wie bei den Komikern: Wer als Stand-Up-Comedian überlebt, der ist durch eine Schule gegangen, bei der spätere Fernseh- oder Kinorollen geradezu als ein lockerer Ferienaufenthalt gelten können (und man schaue einmal, wie viele der bekannten amerikanischen Fernsehkomiker als Stand-Ups begonnen haben - fast alle!).
Wie bekommt ein Autor nun seine Idee oder Handlung in diese begrenzte Zahl von Wörtern gepresst, ohne seinen Plot hölzern oder ohne Tiefe erscheienn zu lassen?
Nun, hier kann das geschriebene Wort (und der bereitwillig mithelfende Geist des Lesers) seine volle Stärke ausspielen. Denn eines der besten Hilfsmittel des Autors sind die Dinge, die Larry Niven in seiner Fantasy-Kurzgeschichtensammlung "Der Flug des Pferdes" als die Verwendung von Universalien bezeichnete. Niven diente diese Begrifflichkeit dazu seine Behauptung zu unterstreichen, dass Fantasy bei weitem nicht eine größere Freiheit als die Science Fiktion besitze. Begriffe und Dinge wie "Magie", "Untoter" oder "Drache" wären so mit Bedeutungen unterschiedlichster Art aufgeladen, dass ein Abweichen von diesen Dingen schwierig, aber auch unnötig sei. "Wer nicht in Universalien spricht, spricht über gar nichts".
Wie auch immer: Universalien sind der gute Freund jeden Autors. Gerade in der SF haben sie noch eine ganz besondere Bedeutung. Sie begegnen einem oft, und ihre Verwendung kann für einen Autor in vielerlei Hinsicht von Vorteil sein.
Nehmen wir einmal die Romane des oft unterschätzten deutschen SF-Autors Hans Dominik. Seine Hard-SF spielt in seiner Gegenwart der 30er Jahre. Trotzdem sind seine Geschichten eigentümlich zeitlos, und sind ohne Stirnrunzeln oder begriffliche Missverständnisse auch heute noch lesbar.
"Er nahm seinen Wagen und fuhr in rasendem Tempo nach Berlin."
Was 'rasendes Tempo' 1930 war, vermag ich nicht genau zu sagen. Auch welche Form des Automobils Dominik dabei vorschwebte, weiß ich nicht genau. In meiner Phantasie jedoch entsteht aber dabei natürlich das Bild einer heutigen Autobahn, heutigen benzingetriebenen PKWs und einem Fahrtempo im Bereich der 200 km pro Stunde. In 50 Jahren wird der Leser sich vielleicht ein durch Elektrohybridmotor getriebenes Fahrzeug imaginieren, das in völlig anderer Optik und Aussehen die Straßen bevölkert. All dies in einem einzigen Satz verborgen, mit automatischer Aktualisierungsfunktion versehen. Tolle Sache.
Man vergleiche das einmal mit der manchmal ermüdenden detaillierten Beschreibung des Computersystems bei "Jurrasic Park". Hier spürt man schon wenige Jahre nach der Entstehung des Romans den kalten Hauch des Unzeitgemäßen und Veralteten.
Spätestens hier wird einem auch klar, dass dieser Vorteil für den Film so nicht gelten kann. Was mich an der aktuellen Verfilmung der "Hunger Games" vom ersten Moment an gestört hat, war die verslumte Darstellung des Heimatdistricts der Katniss Everdeen. Die Deutlichkeit der Verwahrlosung, der Rückständigkeit und der Armut ihres Bezirks im Film wird dem Leser im Buch hingegen nur langsam und gemeinsam mit der Hauptdarstellerin im Vergleich mit der modernen Hauptstadt klar - ganz bewusst sind die Attribute der Beschreibungen am Anfang des Romanes auf einem verschwommenen Level gehalte, bei dem die beischmückenden Adjektive fehlen.
Auch ein Grund übrigens, warum die besten SF-Filme möglichst weit in einer fernen Zukunft spielen (sollten) - die unfreiwillige Komik eines "Raumschiff Orions", das ja inzwischen zum Kult wurde, ist das beste Beispiel dafür. Im Film ist die Darstellung zukünftiger "Gesellschaftstänze" ziemlich lächerlich. Der Buchautor schreibt von den "Tänzen in der Bar" und überlässt es dann der Phantasie des Lesers, daraus das zu machen, was immer er für richtig und zeitgemäß hält.
n der SF-Literatur, und besonders natürlich in der Short-Story, ist die Verwendung solcher Universalien aber auch ein Kniff, um den Leser in fremde Welten mit überraschenden Veränderungen zu locken.
Besonders dann, wenn das Stilmittel der Ich-Erzählung zum Einsatz kommt, wird der Leser durch die Verwendung von für uns eigentlich klar definierten Begriffen in die Irre geführt - und zu einer Sichtweise, die völlig von der uns gewohnten abweicht.
Ein Vertreter dieser Kunst der Infragestellung des Normalen und Erwarteten ist John Varley.
Sein Hoch-Zeit als Autor waren die frühen Siebziger, ohne damit seine späteren Werke, wie die von mir sehr geschätzte Gäa-Trilogie, herabwürdigen zu wollen. Nach all den Jahren der Hard-SF, der Asimovs, Clarkes und Nivens, war er einer der Vertreter der neuen Ära, die nicht die Technik zur Variablen machte, sondern den Menschen selbst.
Schimmerte schon in den Heinlein-Geschichten die Idee einer veränderten Gesellschaft am Horizont, mit freier Liebe und anderen radikalen Formen des Zusammenlebens, so stellte Varley alles in Frage, was den Menschen nach der damaligen Überzeugung ausmachte.
Die Kurzgeschichte "Gotta Sing, Gotta Dance" war für mich damals eine Offenbarung. Der Plot über eine Zukunft, in der Menschen den Weltraum besiedeln, sich medizinisch modifizieren, in Symbiose mit anderen intelligenten Lebensformen leben und gesellschaftlich nichts mit unserer Zeit Ähnlichkeit hat, war in ihrer Fülle und den Details atemberaubend.
Eigentlich die Geschichte über die Form der Komposition eines Musikstücks - aber in welchem phantastischen Umfeld!
Später wurde mir klar, dass diese Geschichte eingebettet war in ein Handlungsuniversum, das als die '8-Welten-Geschichten' bezeichnet wurde und viele der angerissenen Ideen schon anderer Stelle genauer beschrieben worden waren (wobei Varley zugibt, es bis heute nicht geschafft zu haben, zu jeder der in seinem Handlungsuniversum existierenden und von Menschen bewohnten 8 Welten tatsächlich auch eine Geschichte zu schreiben).
Doch erstaunlich ist, dass schon die allererste seiner veröffentlichten Kurzgeschichten dieses Handlungsuniversum komplett abgesteckt hatte.
Varley schreibt, dass er die Geschichte zur Veröffentlichung um ein Drittel auf 10.000 Wörter kürzen musste - und er leider zugeben müsse, dass dies die Qualität deutlich verbessert habe. Er selbst sieht diese erste veröffentlichte Novellette mit zwiespältigen Gefühlen, und betrachtet es als deutliches Statement, dass "Picnic on Nearside" von keinem Verlag in eine der verschiedenen Anthologien aufgenommen wurde.
Die Geschichte ist die Icherzählung eines 13-jährigen Jungen, der, wie sich dem Leser langsam erschließt, irgendwo auf der erdabgewandten Seite des Mondes wohnt, zwei Jahrhunderte nach dem die Menschheit auf der Erde von Aliens ausgerottet wurde und sich die letzten Reste in den solaren Weltraum gerettet haben. Und während dieser Erzählung wirbelt die Geschichte Schlag auf Schlag alle begrifflichen Selbstverständlichkeiten und Gewissheiten durcheinander. Menschliches Leben, dass durch chirurgische und biologische Modifikation jederzeit angepasst werden kann. Krallen als Füße - eine modebedingte Veränderung für den Abend zum Ausgehen. Geschlechtliche Identität? In dieser Zukunft wechseln die Menschen durch chirurgische Veränderung regelmäßig ihr Geschlecht. Als "Change" auch eine zwischen Kind und Erziehungsberechtigten diskutierte Frage ("Warum darf ich noch keinen Change machen? Alle meine Freunde haben es schon gemacht! Nächstes Jahr mit 14 bin ich sowieso Volljährig" - "Und bis dahin finde ich, das es für Dich zu früh ist!". Was bedeutet es für den sozialen Umgang, wenn der beste Kumpel plötzlich eine vollbusige Blondine ist, die (der?) einem direkt Sex anbietet? Was wiederum in dieser Welt völlig normal ist, wird doch die biologische und sexuelle Reife durch entsprechende medizinische Unterstützung bereits mit acht oder neun Jahren erreicht. Intelligente Computersysteme, die die Erziehung unterstützen, die verstörende Begegnung mit einem seltsamen Menschen, der freiwillig altern und sterben will, die Bedeutungslosigkeit moralischer Regeln und religiösen Überzeugungen, die das Alter Ego des Autors in dieser Welt sowieso für völlig weltfremd und absolut unverständlich hält (explizit die Überzeugungen dieses Kultes mit "dem Pluszeichen mit der verlangten Basis").
Und kaum hat man als Leser das Gefühl, die sozialen und ethischen Implikationen dieser schwindelerregend anderen Zukunft gedanklich halbwegs im Griff zu haben, da wird in einem Nebensatz erwähnt, dass der Junge der Geschichte eigentlich ein Mädchen ist, das seine Mutter kurz nach der Geburt "changen" ließ - und dass diese Mutter-Sohn-Beziehung (selbstverständlich) auch eine sexuelle ist - der einzige Teil der Beziehung, der so richtig funktionieren würde.
Die Geschichte ist sicherlich auch ein schönes Beispiel dafür, dass vielleicht 'ein bisschen weniger' auch mehr sein könnte. Hier wird aus vollen Rohren mit allem geschossen, was ein begabter Autor an neuen Ideen zu erzählen hat. Aber, das ist Meckerei auf höchstem Niveau!
"Picnic on Nearside" lässt einen schwindeln - und das auch 40 Jahre nach dem Erscheinen. Ich weiß gar nicht genau, ob diese erste Novelle von Varley jemals im Deutschen erschienen ist (ich kann mich jedenfalls nicht erinnern, sie gelesen zu haben), sie wäre damals in Deutschland skandalös gewesen.
Sie war für die damalige Zeit revolutionär - und bereitete dem Universum des John Varley den Boden. Fast alle weiteren Geschichten bewegen sich bereits in dem Rahmen, im Universum der durch diese einen Geschichte abgesteckten Umwelt.
Kaum etwas in dieser Geschichte ist auf den ersten Blick so, wie man es erwarten würde. Keiner der begrifflichen Universalien hat hier ihre Gültigkeit.
Ein Beispiel, wie gut und reich an Ideen SF wirklich sein kann.
Ohne Universalien erzählt man über gar nichts? Larry Niven hat definitiv nicht recht.
Wer sich für John Varley und seine Welten interessiert, dem sein die Zusammenstellung "The John Varley Reader - Thirty Years of Science Fiction" wärmstens empfohlen. Er ist als TB (550 Seiten) und eBook erhältlich und enthält eine Vielzahl seiner Geschichten. Alle Geschichten sind eingeleitet und kommentiert von John Varley, und man kann Sie als Biographie des Autors betrachten. Auf jeden Fall ein faszinierender Einblick in die Gedankenwelt dieses ungewöhnlichen Schriftstellers.
(Facebook-Gruppe: Asimov-Kellerbar)
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SF-Kurzgeschichten und das Picknick auf Nearside
von Klaus Marion
Liebe Zuhörer, ich bin ein Liebhaber von Science Fiktion Kurzgeschichten - schon seit meiner frühester Jugend haben mich diese fasziniert und begeistert. Besonders in ihrer extremsten Form, der amerikanischen Short-Story, mit ihrer für die SF gültigen Beschränkung auf maximal 7.500 Wörter, ist sie mir immer (falls gut geschrieben) ein besonderes Erlebnis gewesen.
Ihre kompakte Form und ihre zwangsläufige Beschränkung auf die Essenz einer Geschichte haben es mir schon immer angetan.
Ungezählte Bände mit Sammlungen angelsächsischer Kurzgeschichten in Form von Heynes "The Best of Magazine of Fantasy & Science Fiktion", Ullsteins "Science Fiktion Stories"-Reihe oder auch die "Best of Isaac Asimovs SF-Magazin" prägten meine Vorlieben - und auch meinen eigenen Stil des Schreibens.
Kurzgeschichten schreiben, besonders im Bereich der Science Fiktion, ist für den Autor eine schwierige Sache.
Eine gute SF-Story benötigt eine Idee, einen Plot, Charaktere, eine Komposition. Das sind die gleichen hohen Anforderungen, die auch an ein ganzes Buch gestellt werden - nur alles viel dichter und kompakter. Und so kann eine gut gemachte Kurzgeschichte literarisch ein herausragendes Erlebnis sein, finanziell ist sie für einen Autor (der nach Wörtern bezahlt wird) eine Katastrophe: Davon können SF-Autoren nicht leben.
John Varley (auf den wir später noch ausführlicher kommen werden) schreibt in seiner 2004 erschienenen Sammlung von kommentierten Kurzgeschichten "The John Varley Reader", dass er in der Anfangszeit seines Schaffens pro Monat ein, maximal zwei Geschichten schreiben (und verkaufen!) konnte. Seine Familie zu ernähren war ihm damit aber nicht möglich.
Vielleicht ist unter diesen Gesichtspunkten der Mangel an Möglichkeiten, in Deutschland SF in dieser Form zu verkaufen, nicht einmal so negativ zu sehen.
Auf der anderen Seite verhält es sich in diesem Bereich wie bei den Komikern: Wer als Stand-Up-Comedian überlebt, der ist durch eine Schule gegangen, bei der spätere Fernseh- oder Kinorollen geradezu als ein lockerer Ferienaufenthalt gelten können (und man schaue einmal, wie viele der bekannten amerikanischen Fernsehkomiker als Stand-Ups begonnen haben - fast alle!).
Wie bekommt ein Autor nun seine Idee oder Handlung in diese begrenzte Zahl von Wörtern gepresst, ohne seinen Plot hölzern oder ohne Tiefe erscheienn zu lassen?
Nun, hier kann das geschriebene Wort (und der bereitwillig mithelfende Geist des Lesers) seine volle Stärke ausspielen. Denn eines der besten Hilfsmittel des Autors sind die Dinge, die Larry Niven in seiner Fantasy-Kurzgeschichtensammlung "Der Flug des Pferdes" als die Verwendung von Universalien bezeichnete. Niven diente diese Begrifflichkeit dazu seine Behauptung zu unterstreichen, dass Fantasy bei weitem nicht eine größere Freiheit als die Science Fiktion besitze. Begriffe und Dinge wie "Magie", "Untoter" oder "Drache" wären so mit Bedeutungen unterschiedlichster Art aufgeladen, dass ein Abweichen von diesen Dingen schwierig, aber auch unnötig sei. "Wer nicht in Universalien spricht, spricht über gar nichts".
Wie auch immer: Universalien sind der gute Freund jeden Autors. Gerade in der SF haben sie noch eine ganz besondere Bedeutung. Sie begegnen einem oft, und ihre Verwendung kann für einen Autor in vielerlei Hinsicht von Vorteil sein.
Nehmen wir einmal die Romane des oft unterschätzten deutschen SF-Autors Hans Dominik. Seine Hard-SF spielt in seiner Gegenwart der 30er Jahre. Trotzdem sind seine Geschichten eigentümlich zeitlos, und sind ohne Stirnrunzeln oder begriffliche Missverständnisse auch heute noch lesbar.
"Er nahm seinen Wagen und fuhr in rasendem Tempo nach Berlin."
Was 'rasendes Tempo' 1930 war, vermag ich nicht genau zu sagen. Auch welche Form des Automobils Dominik dabei vorschwebte, weiß ich nicht genau. In meiner Phantasie jedoch entsteht aber dabei natürlich das Bild einer heutigen Autobahn, heutigen benzingetriebenen PKWs und einem Fahrtempo im Bereich der 200 km pro Stunde. In 50 Jahren wird der Leser sich vielleicht ein durch Elektrohybridmotor getriebenes Fahrzeug imaginieren, das in völlig anderer Optik und Aussehen die Straßen bevölkert. All dies in einem einzigen Satz verborgen, mit automatischer Aktualisierungsfunktion versehen. Tolle Sache.
Man vergleiche das einmal mit der manchmal ermüdenden detaillierten Beschreibung des Computersystems bei "Jurrasic Park". Hier spürt man schon wenige Jahre nach der Entstehung des Romans den kalten Hauch des Unzeitgemäßen und Veralteten.
Spätestens hier wird einem auch klar, dass dieser Vorteil für den Film so nicht gelten kann. Was mich an der aktuellen Verfilmung der "Hunger Games" vom ersten Moment an gestört hat, war die verslumte Darstellung des Heimatdistricts der Katniss Everdeen. Die Deutlichkeit der Verwahrlosung, der Rückständigkeit und der Armut ihres Bezirks im Film wird dem Leser im Buch hingegen nur langsam und gemeinsam mit der Hauptdarstellerin im Vergleich mit der modernen Hauptstadt klar - ganz bewusst sind die Attribute der Beschreibungen am Anfang des Romanes auf einem verschwommenen Level gehalte, bei dem die beischmückenden Adjektive fehlen.
Auch ein Grund übrigens, warum die besten SF-Filme möglichst weit in einer fernen Zukunft spielen (sollten) - die unfreiwillige Komik eines "Raumschiff Orions", das ja inzwischen zum Kult wurde, ist das beste Beispiel dafür. Im Film ist die Darstellung zukünftiger "Gesellschaftstänze" ziemlich lächerlich. Der Buchautor schreibt von den "Tänzen in der Bar" und überlässt es dann der Phantasie des Lesers, daraus das zu machen, was immer er für richtig und zeitgemäß hält.
n der SF-Literatur, und besonders natürlich in der Short-Story, ist die Verwendung solcher Universalien aber auch ein Kniff, um den Leser in fremde Welten mit überraschenden Veränderungen zu locken.
Besonders dann, wenn das Stilmittel der Ich-Erzählung zum Einsatz kommt, wird der Leser durch die Verwendung von für uns eigentlich klar definierten Begriffen in die Irre geführt - und zu einer Sichtweise, die völlig von der uns gewohnten abweicht.
Ein Vertreter dieser Kunst der Infragestellung des Normalen und Erwarteten ist John Varley.
Sein Hoch-Zeit als Autor waren die frühen Siebziger, ohne damit seine späteren Werke, wie die von mir sehr geschätzte Gäa-Trilogie, herabwürdigen zu wollen. Nach all den Jahren der Hard-SF, der Asimovs, Clarkes und Nivens, war er einer der Vertreter der neuen Ära, die nicht die Technik zur Variablen machte, sondern den Menschen selbst.
Schimmerte schon in den Heinlein-Geschichten die Idee einer veränderten Gesellschaft am Horizont, mit freier Liebe und anderen radikalen Formen des Zusammenlebens, so stellte Varley alles in Frage, was den Menschen nach der damaligen Überzeugung ausmachte.
Die Kurzgeschichte "Gotta Sing, Gotta Dance" war für mich damals eine Offenbarung. Der Plot über eine Zukunft, in der Menschen den Weltraum besiedeln, sich medizinisch modifizieren, in Symbiose mit anderen intelligenten Lebensformen leben und gesellschaftlich nichts mit unserer Zeit Ähnlichkeit hat, war in ihrer Fülle und den Details atemberaubend.
Eigentlich die Geschichte über die Form der Komposition eines Musikstücks - aber in welchem phantastischen Umfeld!
Später wurde mir klar, dass diese Geschichte eingebettet war in ein Handlungsuniversum, das als die '8-Welten-Geschichten' bezeichnet wurde und viele der angerissenen Ideen schon anderer Stelle genauer beschrieben worden waren (wobei Varley zugibt, es bis heute nicht geschafft zu haben, zu jeder der in seinem Handlungsuniversum existierenden und von Menschen bewohnten 8 Welten tatsächlich auch eine Geschichte zu schreiben).
Doch erstaunlich ist, dass schon die allererste seiner veröffentlichten Kurzgeschichten dieses Handlungsuniversum komplett abgesteckt hatte.
Varley schreibt, dass er die Geschichte zur Veröffentlichung um ein Drittel auf 10.000 Wörter kürzen musste - und er leider zugeben müsse, dass dies die Qualität deutlich verbessert habe. Er selbst sieht diese erste veröffentlichte Novellette mit zwiespältigen Gefühlen, und betrachtet es als deutliches Statement, dass "Picnic on Nearside" von keinem Verlag in eine der verschiedenen Anthologien aufgenommen wurde.
Die Geschichte ist die Icherzählung eines 13-jährigen Jungen, der, wie sich dem Leser langsam erschließt, irgendwo auf der erdabgewandten Seite des Mondes wohnt, zwei Jahrhunderte nach dem die Menschheit auf der Erde von Aliens ausgerottet wurde und sich die letzten Reste in den solaren Weltraum gerettet haben. Und während dieser Erzählung wirbelt die Geschichte Schlag auf Schlag alle begrifflichen Selbstverständlichkeiten und Gewissheiten durcheinander. Menschliches Leben, dass durch chirurgische und biologische Modifikation jederzeit angepasst werden kann. Krallen als Füße - eine modebedingte Veränderung für den Abend zum Ausgehen. Geschlechtliche Identität? In dieser Zukunft wechseln die Menschen durch chirurgische Veränderung regelmäßig ihr Geschlecht. Als "Change" auch eine zwischen Kind und Erziehungsberechtigten diskutierte Frage ("Warum darf ich noch keinen Change machen? Alle meine Freunde haben es schon gemacht! Nächstes Jahr mit 14 bin ich sowieso Volljährig" - "Und bis dahin finde ich, das es für Dich zu früh ist!". Was bedeutet es für den sozialen Umgang, wenn der beste Kumpel plötzlich eine vollbusige Blondine ist, die (der?) einem direkt Sex anbietet? Was wiederum in dieser Welt völlig normal ist, wird doch die biologische und sexuelle Reife durch entsprechende medizinische Unterstützung bereits mit acht oder neun Jahren erreicht. Intelligente Computersysteme, die die Erziehung unterstützen, die verstörende Begegnung mit einem seltsamen Menschen, der freiwillig altern und sterben will, die Bedeutungslosigkeit moralischer Regeln und religiösen Überzeugungen, die das Alter Ego des Autors in dieser Welt sowieso für völlig weltfremd und absolut unverständlich hält (explizit die Überzeugungen dieses Kultes mit "dem Pluszeichen mit der verlangten Basis").
Und kaum hat man als Leser das Gefühl, die sozialen und ethischen Implikationen dieser schwindelerregend anderen Zukunft gedanklich halbwegs im Griff zu haben, da wird in einem Nebensatz erwähnt, dass der Junge der Geschichte eigentlich ein Mädchen ist, das seine Mutter kurz nach der Geburt "changen" ließ - und dass diese Mutter-Sohn-Beziehung (selbstverständlich) auch eine sexuelle ist - der einzige Teil der Beziehung, der so richtig funktionieren würde.
Die Geschichte ist sicherlich auch ein schönes Beispiel dafür, dass vielleicht 'ein bisschen weniger' auch mehr sein könnte. Hier wird aus vollen Rohren mit allem geschossen, was ein begabter Autor an neuen Ideen zu erzählen hat. Aber, das ist Meckerei auf höchstem Niveau!
"Picnic on Nearside" lässt einen schwindeln - und das auch 40 Jahre nach dem Erscheinen. Ich weiß gar nicht genau, ob diese erste Novelle von Varley jemals im Deutschen erschienen ist (ich kann mich jedenfalls nicht erinnern, sie gelesen zu haben), sie wäre damals in Deutschland skandalös gewesen.
Sie war für die damalige Zeit revolutionär - und bereitete dem Universum des John Varley den Boden. Fast alle weiteren Geschichten bewegen sich bereits in dem Rahmen, im Universum der durch diese einen Geschichte abgesteckten Umwelt.
Kaum etwas in dieser Geschichte ist auf den ersten Blick so, wie man es erwarten würde. Keiner der begrifflichen Universalien hat hier ihre Gültigkeit.
Ein Beispiel, wie gut und reich an Ideen SF wirklich sein kann.
Ohne Universalien erzählt man über gar nichts? Larry Niven hat definitiv nicht recht.
Wer sich für John Varley und seine Welten interessiert, dem sein die Zusammenstellung "The John Varley Reader - Thirty Years of Science Fiction" wärmstens empfohlen. Er ist als TB (550 Seiten) und eBook erhältlich und enthält eine Vielzahl seiner Geschichten. Alle Geschichten sind eingeleitet und kommentiert von John Varley, und man kann Sie als Biographie des Autors betrachten. Auf jeden Fall ein faszinierender Einblick in die Gedankenwelt dieses ungewöhnlichen Schriftstellers.
Der Beitrag wurde am Dienstag, 25. September 2012 veröffentlicht und wurde unter dem Topic Vorträge aus der Asimov Kellerbar abgelegt.
'SF-Kurzgeschichten und das Picknick auf Nearside - Ein Vortrag in der Asimov-Kellerbar'
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