Der nachfolgende Artikel stammt aus der Vortragsreihe "SF-Literatur heute" in der Asimov-Kellerbar
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Das vergessene Buch
James Tiptree jr – welcher SF-Leser kennt diesen Namen nicht?
James Tiptree j. war Alice Sheldon, die jahrelang unter diesem Pseudonym Kurzgeschichten veröffentlichte, die in jeder Hinsicht bemerkenswert waren.
Für die, die die Geschichten damals in den Magazinen lasen (bzw. in Deutschland um ein paar Jahre versetzt als Taschenbücher kauften), war Tiptree jr. eine Offenbahrung: Rasante Geschichten wie "Birth of a Salesman", (Geburt eines Handlungsreisenden, dtsch. 1976), mit einem Irrwitz und Tempo wie unter Speed (was es möglicherweise trifft – Sheldon war langjährig Amphetaminabhängig), humorvolle SF aus ganz persönlichem Winkel "Pupa Knows Best", (Hilfe!, dtsch. 1976), tragische Plots wie "Forever to a Hudson Bay Blanket", (Ein Leben für eine Decke der Hudson Bay Company, dtsch. 1975) oder "Love Is the Plan the Plan Is Death", (Liebe ist der Plan, der Plan ist Tod, dtsch.1981), und dann wieder Geschichten, die so locker mit Sex und amerikanischen Idealen umgingen wie das geniale "I’ll Be Waiting for You When the Swimming Pool Is Empty" (Wer rastet, der rostet, dtsch. 1976).
Vielen Lesern ist gar nicht bewußt, wie viele Meilensteine der SF-Short-Stories von dieser Autorin stammten:
"Beam Us Home" (Beam uns nachhaus, dtsch. 1976). "The Peacefulness of Vivyan" (Die Friedfertigkeit Vivyans, dtsch. 1976). "The Man Who Walked Home" (Der Mann, der sich auf den Heimweg machte, 1976). "The Man Doors Said Hello To", (Der Kerl, den die Türen grüßten, dtsch. 1975).
Die Liste ist lang (über 40 Short Stories aus ihrer Feder), und alle waren ungewöhnlich. Neben John Varley war Alice Sheldon die Autorin, die besonders aus den ausgetretenen Pfaden der menschlichen Kultur und des als selbstverständlichen und unveränderlich erachteten Seins ausbrachen.
Ihre Figuren hielten sich an keine Konvention von gesellschaftlicher, sexueller oder moralischer Norm. Nicht nur die Technik würde sich in Zukunft ändern, auch der Mensch würde sich verändern.
Besonders faszinierend war dabei dieses Gefühl, dass selbst normale Menschen in ihren Geschichten irgendwie einen anderen und überraschenden Blickwinkel auf Situationen entwickelten – der aber einem immer als plausibel erschien.
Dass das Pseudonym jahrelang nicht gelüftet wurde, und die Überraschung dann besonders groß war, dass es sich um eine Frau handelte – es sagt viel aus über die Gesellschaft der Siebziger, die sich zwar revolutionär gab (auch und gerade in der SF), aber in ihren männlichen Vertretern sich nicht wirklich von einem männerzentrierten Blick emanzipiert hatte.
Was vielleicht noch überraschender, und für viele fast verstörender war (aber nie wirklich thematisiert wurde): Die Autorin war (damals) um die 60 Jahre alt. Alten Männern traute man manches zu. Aber Frauen im reifen Alter? Psychologin, frühere CIA-Mitarbeiter (noch aus dem 2. Weltkrieg her), verheiratet – alles ein Ausweis für einen Freigeistcharakter, der sich in keiner Schublade unterbringen ließ und der einen tiefen Fußabdruck in der Geschichte der SF hinterließ.
Auch wenn Tiptrees Spezialität die Kurzgeschichte war: Sie schrieb auch Romane. Der erste war "Die Feuerschneise" (Wilhelm Heyne Verlag, München 1980). Ein Roman, der positive Kritiken fand und Motive aus ihren Kurzgeschichten verarbeitete.
Und sie schrieb ein zweites Buch „Brightness falls from the Air“, ein 400 seitiges Taschenbuch, dass 1985 veröffentlicht wurde.
Nur scheint es hier in Deutschland keiner zu kennen. In Sekundärliteratur und Besprechungen ihres Werks in Deutschland hat es keinen rechten Eingang gefunden.
Es ist das einzige Werk von James Tiptree jr, dass seinen Weg nicht nach Deutschland fand. Warum?
Bevor ich mich dem Werk widme, möchte ich noch einen Einschub machen, der bei der Besprechung des Werks und seiner Beurteilung eine Rolle spielen muss. Wir blicken zwei Jahre weiter:
In den Achzigern hatte Alice Sheldon mit immer mehr gesundheitlichen Problemen zu kämpfen, sie hatte Herzanfälle und litt an Depressionen. Ihr 13 Jahre älterer Ehemann erlitt mehrere Schlaganfälle und erblindete langsam. Am 19. Mai 1987, im Alter von 71 Jahren erschoss Alice Sheldon ihren bettlägrigen 84-jährigen Ehemann und richtete danach das Gewehr auf sich selber. Ihr Abschiedsbrief, in dem sie den Freitod der beiden mit ihrer beider Alter und ihrem Verfall erklärte, war nach Auskunft ihrer Verlegers wohl schon Jahre vorher geschrieben, und von ihr für diesen Moment wieder hervorgezogen worden.
Wir dürfen also annehmen, dass zum Zeitpunkt ihres zweiten Romans dieser Abschiedsbrief schon geschrieben war.
„Brightness Falls from the Air“ ist ein sehr strukturiertes Buch. Die Rahmenhandlung ist die letzte Schockwelle von Partikeln eines durch Menschen im Verlaufe eines Krieges ungewollt zerstörten Sonnensystems am Rande der Galaxis, die Jahrzehnte nach der Detonation der zerstörerischen Waffen ihren Durchgang durch ein benachbartes Sonnensystem und den Planeten Damiem hat.
Die Bewohner dieses Planeten sind insektoide Lebewesen, deren Planet und deren Rasse durch galaktische Zentralregierung unter besonderem Schutz stehen.
Am einzigen Raumhafen sind drei Mitarbeiter des galaktischen Dienstes stationiert, die als Forscher, Beschützer und gleichzeitig als Hotelbetreiber für den selten besuchten Raumhafen agieren.
Die Dameii, die lokale, intelligente Insektenrasse, war Jahre vorher, in den Wirren des Krieges, das Opfer skrupelloser Geschäftemacher, die erkannt hatten, dass deren wohlriechendes Rückensekret unter dem Einfluss von Schmerz, Agonie und Angst eine chemische Veränderung erfährt, die es für Menschen unwiderstehlich macht.
Und so wurden Hundertausende der Bewohner des Planeten während des Krieges von den „Piraten“ langsam und grausam zu Tode gefoltert, um diese unbezahlbare Substanz in besonderer Reinheit zu gewinnen.
Der Schutz und Einsatz der galaktischen Regierung ist der Versuch, dieses von Menschen begangene Unrecht dadurch zu mildern, dass man dafür sorgte, dass es nie wieder geschehen könne.
Corrison Estreel-Korso (Cory genannt) ist die Administratorin des Planeten, Kipruget Korso-Estreel (Kip) ihr Stellvertreter. Beide sind seit Jahren ein Paar, wobei ihre Vergangenheit für den Leser zunächst nicht ganz greifbar ist.
Die Handlung spielt in den 20 Stunden vor dem Erreichen der Partikelwelle, und ist kapitelweise wie in einem Countdown auf diesen Zeitpunkt eingeteilt. Der Leser erlebt dabei die Handlung wie in Echtzeit. Im Anschluss folgen noch mehrere Kapitel, die die folgenden 3 Tage beleuchten.
Beginn der Geschichte ist die Landung eines Passagierschiffes, dass neben einigen angemeldeten Besuchern, die die optischen und energetischen Effekte der Partikelwelle auf dem Planeten beobachten wollen, eine Reihe von Besuchern aus den unterschiedlichsten Welten auslädt, die eigentlich ganz andere Zielplaneten hatten, aber jetzt erst einmal auf dem Planeten für einige Tage bleiben müssen. Da gibt es einen neunjährigen Thronfolger eines Sonnensystems, eine Frau, die ihre katatonische Schwester auf den Planeten bringt, weil sie hofft, sie aus ihrer Verschlossenheit zu befreien, ein seltsamer Aquaplanetenbewohner und noch viele mehr.
Besondere Gäste sind eine kleine Gruppe von Kindern/Jugendlichen, die mit ihrem Filmproduzenten auf diesen Planeten gekommen sind, um dort einen weiteren Pornofilm zu drehen.
Nachdem die Handlung viel über diese Besucher erzählt, wird dem Leser schnell klar, dass hier wie in einem Krimi von Agatha Christie sich einige der Personen als nicht das herausstellen werden, was sie zu sein scheinen.
Die Handlung kulminiert in verschiedenen Ereignissen, die viele der Hauptpersonen sterben lassen. Auch Kips Partnerin, Cory, stirbt einen langsamen Tod. Die letzten Kapitel lösen viele der aufgeworfenen Fragen und führen Sie einer Lösung zu.
Ungewöhnlich ist schon der Stil dieses Buch. Die Langsamkeit der Handlung und die Zeit für Entwicklung der Figuren sind ganz untypisch zum dem oft so rasanten Aufbau ihrer Kurzgeschichten.
Interessant auch die Sprache, die durch die Verwendung vieler im Vergleich zu heute anders geschriebener Worte (minim statt minute) darauf hindeutet, dass diese Menschheit sehr weit in der Zukunft die Galaxis bevölkert. Überhaupt erklären alle Personen ständig untereinander, wie sich ihre Handlungen oder Verhaltensweisen einordnen lassen – eine Menschheit, die gelernt hat, ganz selbstverständlich mit fremden Kulturen und eventuellen Mißverständnissen umzugehen.
Die Handlungsstränge nehmen breiten Bezug auf die beiden von Menschen begangenen Verbrechen, (die Folterung der Dameii wie auch die Zerstörung eines ganzen, unschuldigen Sonnensystems). In wie weit eine ferne Zukunft glaubhaft ist, bei die Synthetisierung von so begehrenswerter Substanzen nicht möglich sein soll, erscheint einem heutzutage im Lichte aller Fortschritte in diesem Bereich doch eher unglaubwürdig.
Alle Personen unterliegen in der Handlung einer gewissen Behäbigkeit, die fast an höfisches Gebaren erinnert – auch dieses Stilmittel scheint jedoch ganz bewusst eingesetzt worden zu sein.
Dass auch die revolutionären Ideen und Visionen von Autoren wie Tiptree einem Alterungsprozess unterliegen, macht jedoch der Handlungsstrang der minderjährigen (legalen) Gruppe von Pornodarstellern und ihrem sympathisch beschriebenen Produzenten und Chef deutlich. Ich weiß nicht, ob Mitte der Achziger Jahre die Vorstellung und Beschreibung einer Welt, in der Pornografie eine ganz normale Fernsehunterhaltung darstellt, noch etwas schockierendes oder revolutionäres anhaftete. Heutzutage, in Zeiten von grenzenlosem Internet, macht dieser Teil der Handlung (in dem nichts beschrieben, sondern bestenfalls umschrieben wird), einen geradezu archaischen Eindruck. Hier ist die Zeit über die Autorin hinweggeschritten.
Doch inmitten all dieser Handlungsfäden findet sich etwas, das einen retrospektiv innehalten lässt. Denn das erstaunlich in die Länge gezogene Ende handelt in der Hauptsache von Corys Tod. Und dieser Tod wird durch die Waffe eines der Außerirdischen ausgelöst (wobei die Verwendung einer solchen Waffe ja nun aufgrund ihrer Langsamkeit gar keinen rechten Sinn macht). Der Tod besteht in einem gerafften Alterungsprozess, der sie innerhalb zwei Tage dahinwelken und schließlich sterben lässt. Er beschreibt ihre Verzweiflung, ja fast Selbstekel von ihrem Körper, und der Unfähigkeit ihres Partners Kip, der nicht weiß, wie er mit ihr im Körper ihres gealterten Selbst zurechtkommen soll. Sie stirbt, ohne dass diese Sprachlosigkeit am Schluss aufgelöst worden wäre.
Es bedarf hier nicht viel Phantasie, um mit dem Wissen über ihren Selbstmord zwei Jahre später in diesen Sätzen ihre persönliche Verzweiflung über sich, ihren Mann und ihren eigenen körperlichen Verfall herauszulesen.
Vielleicht ist dieses Wissen auch der Grund, warum dieser Roman nie ins Deutsche übersetzt wurde. Im amerikanischen ist er nach wie vor erhältlich, als preisgünstiges kindle-eBook ist er ebenfalls zu bekommen. Natürlich wurden Alice Sheldons fiktionale Welten Mitte der achtziger bereits durch den Cyberpunk abgelöst, wo neue virtuelle Welten sich mit einer neuen Gesellschaftskultur trafen.
Doch vielleicht ist „Brightness Falls from the Air“ mit dem Wissen um Alice Sheldons Ende einfach nicht mehr so unbeschwert zu lesen.
Trotzdem möchte ich jedem, der das Buch in Englisch lesen will, den Roman wärmstens ans Herz legen. Er gehört untrennbar zum Werk Alice Sheldons dazu.
„Alles, was sie sahen, war dieser verrottete Körper. Sie sahen nicht, dass ich mich in ihm befand, wie ein Vogel in einem alten Baum. Wenn der Baum verging, würde ich einfach dahingehen. Vielleicht, wenn er einfach zerbröseln würde, könnte ich dann nicht einfach wegfliegen? Frei sein?“
Cory in „Brightness falls from the Air
Klaus Marion 2012
*** Und noch ein Nachtrag: Stand 11.9.2012 ***
Der Septime-Verlag hat mir auf Anfrage mitgeteilt, dass er die rechte an diesem Buch besitzt und eine Veröffentlichung in Deutsch für die Zukunft geplant ist!
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James Tiptree jr – welcher SF-Leser kennt diesen Namen nicht?
James Tiptree j. war Alice Sheldon, die jahrelang unter diesem Pseudonym Kurzgeschichten veröffentlichte, die in jeder Hinsicht bemerkenswert waren.
Für die, die die Geschichten damals in den Magazinen lasen (bzw. in Deutschland um ein paar Jahre versetzt als Taschenbücher kauften), war Tiptree jr. eine Offenbahrung: Rasante Geschichten wie "Birth of a Salesman", (Geburt eines Handlungsreisenden, dtsch. 1976), mit einem Irrwitz und Tempo wie unter Speed (was es möglicherweise trifft – Sheldon war langjährig Amphetaminabhängig), humorvolle SF aus ganz persönlichem Winkel "Pupa Knows Best", (Hilfe!, dtsch. 1976), tragische Plots wie "Forever to a Hudson Bay Blanket", (Ein Leben für eine Decke der Hudson Bay Company, dtsch. 1975) oder "Love Is the Plan the Plan Is Death", (Liebe ist der Plan, der Plan ist Tod, dtsch.1981), und dann wieder Geschichten, die so locker mit Sex und amerikanischen Idealen umgingen wie das geniale "I’ll Be Waiting for You When the Swimming Pool Is Empty" (Wer rastet, der rostet, dtsch. 1976).
Vielen Lesern ist gar nicht bewußt, wie viele Meilensteine der SF-Short-Stories von dieser Autorin stammten:
"Beam Us Home" (Beam uns nachhaus, dtsch. 1976). "The Peacefulness of Vivyan" (Die Friedfertigkeit Vivyans, dtsch. 1976). "The Man Who Walked Home" (Der Mann, der sich auf den Heimweg machte, 1976). "The Man Doors Said Hello To", (Der Kerl, den die Türen grüßten, dtsch. 1975).
Die Liste ist lang (über 40 Short Stories aus ihrer Feder), und alle waren ungewöhnlich. Neben John Varley war Alice Sheldon die Autorin, die besonders aus den ausgetretenen Pfaden der menschlichen Kultur und des als selbstverständlichen und unveränderlich erachteten Seins ausbrachen.
Ihre Figuren hielten sich an keine Konvention von gesellschaftlicher, sexueller oder moralischer Norm. Nicht nur die Technik würde sich in Zukunft ändern, auch der Mensch würde sich verändern.
Besonders faszinierend war dabei dieses Gefühl, dass selbst normale Menschen in ihren Geschichten irgendwie einen anderen und überraschenden Blickwinkel auf Situationen entwickelten – der aber einem immer als plausibel erschien.
Dass das Pseudonym jahrelang nicht gelüftet wurde, und die Überraschung dann besonders groß war, dass es sich um eine Frau handelte – es sagt viel aus über die Gesellschaft der Siebziger, die sich zwar revolutionär gab (auch und gerade in der SF), aber in ihren männlichen Vertretern sich nicht wirklich von einem männerzentrierten Blick emanzipiert hatte.
Was vielleicht noch überraschender, und für viele fast verstörender war (aber nie wirklich thematisiert wurde): Die Autorin war (damals) um die 60 Jahre alt. Alten Männern traute man manches zu. Aber Frauen im reifen Alter? Psychologin, frühere CIA-Mitarbeiter (noch aus dem 2. Weltkrieg her), verheiratet – alles ein Ausweis für einen Freigeistcharakter, der sich in keiner Schublade unterbringen ließ und der einen tiefen Fußabdruck in der Geschichte der SF hinterließ.
Auch wenn Tiptrees Spezialität die Kurzgeschichte war: Sie schrieb auch Romane. Der erste war "Die Feuerschneise" (Wilhelm Heyne Verlag, München 1980). Ein Roman, der positive Kritiken fand und Motive aus ihren Kurzgeschichten verarbeitete.
Und sie schrieb ein zweites Buch „Brightness falls from the Air“, ein 400 seitiges Taschenbuch, dass 1985 veröffentlicht wurde.
Nur scheint es hier in Deutschland keiner zu kennen. In Sekundärliteratur und Besprechungen ihres Werks in Deutschland hat es keinen rechten Eingang gefunden.
Es ist das einzige Werk von James Tiptree jr, dass seinen Weg nicht nach Deutschland fand. Warum?
Bevor ich mich dem Werk widme, möchte ich noch einen Einschub machen, der bei der Besprechung des Werks und seiner Beurteilung eine Rolle spielen muss. Wir blicken zwei Jahre weiter:
In den Achzigern hatte Alice Sheldon mit immer mehr gesundheitlichen Problemen zu kämpfen, sie hatte Herzanfälle und litt an Depressionen. Ihr 13 Jahre älterer Ehemann erlitt mehrere Schlaganfälle und erblindete langsam. Am 19. Mai 1987, im Alter von 71 Jahren erschoss Alice Sheldon ihren bettlägrigen 84-jährigen Ehemann und richtete danach das Gewehr auf sich selber. Ihr Abschiedsbrief, in dem sie den Freitod der beiden mit ihrer beider Alter und ihrem Verfall erklärte, war nach Auskunft ihrer Verlegers wohl schon Jahre vorher geschrieben, und von ihr für diesen Moment wieder hervorgezogen worden.
Wir dürfen also annehmen, dass zum Zeitpunkt ihres zweiten Romans dieser Abschiedsbrief schon geschrieben war.
„Brightness Falls from the Air“ ist ein sehr strukturiertes Buch. Die Rahmenhandlung ist die letzte Schockwelle von Partikeln eines durch Menschen im Verlaufe eines Krieges ungewollt zerstörten Sonnensystems am Rande der Galaxis, die Jahrzehnte nach der Detonation der zerstörerischen Waffen ihren Durchgang durch ein benachbartes Sonnensystem und den Planeten Damiem hat.
Die Bewohner dieses Planeten sind insektoide Lebewesen, deren Planet und deren Rasse durch galaktische Zentralregierung unter besonderem Schutz stehen.
Am einzigen Raumhafen sind drei Mitarbeiter des galaktischen Dienstes stationiert, die als Forscher, Beschützer und gleichzeitig als Hotelbetreiber für den selten besuchten Raumhafen agieren.
Die Dameii, die lokale, intelligente Insektenrasse, war Jahre vorher, in den Wirren des Krieges, das Opfer skrupelloser Geschäftemacher, die erkannt hatten, dass deren wohlriechendes Rückensekret unter dem Einfluss von Schmerz, Agonie und Angst eine chemische Veränderung erfährt, die es für Menschen unwiderstehlich macht.
Und so wurden Hundertausende der Bewohner des Planeten während des Krieges von den „Piraten“ langsam und grausam zu Tode gefoltert, um diese unbezahlbare Substanz in besonderer Reinheit zu gewinnen.
Der Schutz und Einsatz der galaktischen Regierung ist der Versuch, dieses von Menschen begangene Unrecht dadurch zu mildern, dass man dafür sorgte, dass es nie wieder geschehen könne.
Corrison Estreel-Korso (Cory genannt) ist die Administratorin des Planeten, Kipruget Korso-Estreel (Kip) ihr Stellvertreter. Beide sind seit Jahren ein Paar, wobei ihre Vergangenheit für den Leser zunächst nicht ganz greifbar ist.
Die Handlung spielt in den 20 Stunden vor dem Erreichen der Partikelwelle, und ist kapitelweise wie in einem Countdown auf diesen Zeitpunkt eingeteilt. Der Leser erlebt dabei die Handlung wie in Echtzeit. Im Anschluss folgen noch mehrere Kapitel, die die folgenden 3 Tage beleuchten.
Beginn der Geschichte ist die Landung eines Passagierschiffes, dass neben einigen angemeldeten Besuchern, die die optischen und energetischen Effekte der Partikelwelle auf dem Planeten beobachten wollen, eine Reihe von Besuchern aus den unterschiedlichsten Welten auslädt, die eigentlich ganz andere Zielplaneten hatten, aber jetzt erst einmal auf dem Planeten für einige Tage bleiben müssen. Da gibt es einen neunjährigen Thronfolger eines Sonnensystems, eine Frau, die ihre katatonische Schwester auf den Planeten bringt, weil sie hofft, sie aus ihrer Verschlossenheit zu befreien, ein seltsamer Aquaplanetenbewohner und noch viele mehr.
Besondere Gäste sind eine kleine Gruppe von Kindern/Jugendlichen, die mit ihrem Filmproduzenten auf diesen Planeten gekommen sind, um dort einen weiteren Pornofilm zu drehen.
Nachdem die Handlung viel über diese Besucher erzählt, wird dem Leser schnell klar, dass hier wie in einem Krimi von Agatha Christie sich einige der Personen als nicht das herausstellen werden, was sie zu sein scheinen.
Die Handlung kulminiert in verschiedenen Ereignissen, die viele der Hauptpersonen sterben lassen. Auch Kips Partnerin, Cory, stirbt einen langsamen Tod. Die letzten Kapitel lösen viele der aufgeworfenen Fragen und führen Sie einer Lösung zu.
Ungewöhnlich ist schon der Stil dieses Buch. Die Langsamkeit der Handlung und die Zeit für Entwicklung der Figuren sind ganz untypisch zum dem oft so rasanten Aufbau ihrer Kurzgeschichten.
Interessant auch die Sprache, die durch die Verwendung vieler im Vergleich zu heute anders geschriebener Worte (minim statt minute) darauf hindeutet, dass diese Menschheit sehr weit in der Zukunft die Galaxis bevölkert. Überhaupt erklären alle Personen ständig untereinander, wie sich ihre Handlungen oder Verhaltensweisen einordnen lassen – eine Menschheit, die gelernt hat, ganz selbstverständlich mit fremden Kulturen und eventuellen Mißverständnissen umzugehen.
Die Handlungsstränge nehmen breiten Bezug auf die beiden von Menschen begangenen Verbrechen, (die Folterung der Dameii wie auch die Zerstörung eines ganzen, unschuldigen Sonnensystems). In wie weit eine ferne Zukunft glaubhaft ist, bei die Synthetisierung von so begehrenswerter Substanzen nicht möglich sein soll, erscheint einem heutzutage im Lichte aller Fortschritte in diesem Bereich doch eher unglaubwürdig.
Alle Personen unterliegen in der Handlung einer gewissen Behäbigkeit, die fast an höfisches Gebaren erinnert – auch dieses Stilmittel scheint jedoch ganz bewusst eingesetzt worden zu sein.
Dass auch die revolutionären Ideen und Visionen von Autoren wie Tiptree einem Alterungsprozess unterliegen, macht jedoch der Handlungsstrang der minderjährigen (legalen) Gruppe von Pornodarstellern und ihrem sympathisch beschriebenen Produzenten und Chef deutlich. Ich weiß nicht, ob Mitte der Achziger Jahre die Vorstellung und Beschreibung einer Welt, in der Pornografie eine ganz normale Fernsehunterhaltung darstellt, noch etwas schockierendes oder revolutionäres anhaftete. Heutzutage, in Zeiten von grenzenlosem Internet, macht dieser Teil der Handlung (in dem nichts beschrieben, sondern bestenfalls umschrieben wird), einen geradezu archaischen Eindruck. Hier ist die Zeit über die Autorin hinweggeschritten.
Doch inmitten all dieser Handlungsfäden findet sich etwas, das einen retrospektiv innehalten lässt. Denn das erstaunlich in die Länge gezogene Ende handelt in der Hauptsache von Corys Tod. Und dieser Tod wird durch die Waffe eines der Außerirdischen ausgelöst (wobei die Verwendung einer solchen Waffe ja nun aufgrund ihrer Langsamkeit gar keinen rechten Sinn macht). Der Tod besteht in einem gerafften Alterungsprozess, der sie innerhalb zwei Tage dahinwelken und schließlich sterben lässt. Er beschreibt ihre Verzweiflung, ja fast Selbstekel von ihrem Körper, und der Unfähigkeit ihres Partners Kip, der nicht weiß, wie er mit ihr im Körper ihres gealterten Selbst zurechtkommen soll. Sie stirbt, ohne dass diese Sprachlosigkeit am Schluss aufgelöst worden wäre.
Es bedarf hier nicht viel Phantasie, um mit dem Wissen über ihren Selbstmord zwei Jahre später in diesen Sätzen ihre persönliche Verzweiflung über sich, ihren Mann und ihren eigenen körperlichen Verfall herauszulesen.
Vielleicht ist dieses Wissen auch der Grund, warum dieser Roman nie ins Deutsche übersetzt wurde. Im amerikanischen ist er nach wie vor erhältlich, als preisgünstiges kindle-eBook ist er ebenfalls zu bekommen. Natürlich wurden Alice Sheldons fiktionale Welten Mitte der achtziger bereits durch den Cyberpunk abgelöst, wo neue virtuelle Welten sich mit einer neuen Gesellschaftskultur trafen.
Doch vielleicht ist „Brightness Falls from the Air“ mit dem Wissen um Alice Sheldons Ende einfach nicht mehr so unbeschwert zu lesen.
Trotzdem möchte ich jedem, der das Buch in Englisch lesen will, den Roman wärmstens ans Herz legen. Er gehört untrennbar zum Werk Alice Sheldons dazu.
„Alles, was sie sahen, war dieser verrottete Körper. Sie sahen nicht, dass ich mich in ihm befand, wie ein Vogel in einem alten Baum. Wenn der Baum verging, würde ich einfach dahingehen. Vielleicht, wenn er einfach zerbröseln würde, könnte ich dann nicht einfach wegfliegen? Frei sein?“
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*** Und noch ein Nachtrag: Stand 11.9.2012 ***
Der Septime-Verlag hat mir auf Anfrage mitgeteilt, dass er die rechte an diesem Buch besitzt und eine Veröffentlichung in Deutsch für die Zukunft geplant ist!
Der Beitrag wurde am Dienstag, 11. September 2012 veröffentlicht und wurde unter dem Topic Satiren Asimov-Keller-Bar abgelegt.
'Das vergessene Buch - ein Vortrag in der Asimov-Kellerbar'
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