Schlaflos in Bad Kreuznach
von Klaus Marion.
Veröffentlicht in VorSicht 12/2016

Schlaflosigkeit ist sicherlich eine unschöne Sache. Dabei zeigt die Wissenschaft, dass man mit ganz einfachen Methoden die Wachheit überwinden und schnell in einen tiefen Schlummer gelangen kann.

Der Arbeitstag war hart, der Spielfilm im Fernsehen hatte Überlänge gehabt, und am folgenden Morgen würde der Wecker schon wieder in aller Frühe sein lärmendes Werk verrichten.
Zeit, schnellstens einzuschlafen.
Leider tat sich jedoch nichts dergleichen.
Ich prüfte kurz die Rahmenbedingungen. Das Zimmer war angenehm kühl, das Bett schlaffördernd warm, die Matratze schön weich. Ausreichend dunkel war es auch.
Trotzdem lag ich wach.
Nun sollten solche Kalamitäten für Menschen mit messerscharfem Intellekt und überdurchschnittlichem Verständnis für wissenschaftliche Zusammenhänge keine Schwierigkeit bedeuten. Schließlich gibt es probate Mittel und Tricks, um hier schnell Abhilfe zu schaffen.
Wie die Verhaltenspsychologie in verschiedenen Studien schon vor längerer Zeit herausgefunden hat, ist das klassische Zählen von Schafen aufgrund der wiederholten bildlichen Vorstellung sowie dem monotonen Rechenvorgang offensichtlich wirklich geeignet, den Auszuführenden in kurzer Zeit in die Traumwelt zu befördern.
Gesagt getan.
Vor meinem inneren Auge begannen wollige und wohlgenährte Tiere mit einem mit einem gleichermaßen kurzen wie eleganten Anlauf über ein mittelhohes Gatter zu springen.
Nach ca. 500 hüpfenden Schafe bekam ich jedoch in meiner Vorstellung Probleme mit der Menge der sich auf der Landungsseite ansammelnden Wolltiere. Also erweiterte ich das innere Bild dergestalt, dass nach der Landung die Tiere sich sammelten, um durch ein offenes Gatter wieder auf die andere Seite zu gelangen und sich dem Strom der Springer erneut anzuschließen. Dies reduzierte die Überfüllung mit Schafen beträchtlich.
Um die Vorstellung realistischer zu gestalten, fügte ich in die wartende Reihe von weißbefellten Hausschafen auch braungescheckte ostfriesische Milchschafe ein, und ab und an mischte sich auch ein dunkles Gotlandschaf unter die Menge.
Ich zählte erneut.
Nach knapp 800 Schafen hatte ich zwar eine recht klare Vorstellung vom Sprungverhalten der Tiere, doch leider war ich dadurch kein bisschen schläfriger geworden.
Vielleicht sollte ich es mit Variationen versuchen?
Ich ließ also die Schafe nach dem Absprung die Hammelbeine elegant zur Seite strecken und bei der Landung kurz blöken. Zwei frisch geschorene Merinoschafe rundeten die Darbietung durch einen Sprung mit gestreckten Salto, eingedrehter anderthalbfacher Schraube und gehockter Landung ab.
Leider erwies sich auch diese Darbietung nicht als schlaffördernd.
Vielleicht lag es an dem unlogischen Aufbau der inneren Darstellung? Warum sollten Schafe mühsam über ein recht hohes Gatter springen, um danach durch ein offenes Tor wieder zurück auf ihren Weideplatz zu strömen?
Vermutlich reizte dieses sinnlose Verhalten mein Unterbewusstsein zu vehementem Widerspruch und verhinderte somit die für den Schlaf notwendige innere Entspannung. Ich modifizierte also die Vorstellung hin zu springenden Schafen, die nach dem Sprung einen Bogen schlugen, um ein Stück weiter wieder in Gegenrichtung zu springen. Auf diese Art und Weise konnte ich sogar die Zahl der springenden Tiere verdoppeln, was zu einem schnelleren Einschlafen führen sollte.
Leider erwies es sich als schwierig, jetzt beim Zählen der Tiere nicht durcheinander zu kommen. Nachdem ich eine gute halbe Stunde verschiedene Varianten der Sprünge und Taktiken beim Zählen durchprobiert hatte, kam ich zu dem Ergebnis, dass es am besten funktionierte, wenn die Schafe synchron in beide Richtungen absprangen und ich dann in Zweierschritten die Sprünge hochzählen konnte.
Bei 3624 war ich zwar nicht schläfrig, dafür hatte ich inzwischen einen Hunger auf gebratene Hammelkeule mit Kartoffeln entwickelt.
Ich widerstand der Versuchung, mitten in der Nacht aufzustehen und in der Tiefkühltruhe nach Fleisch zu suchen, sondern fügte ersatzweise meiner Schar von springenden Schafen einen im Hintergrund befindlichen Bauernhof, ein beschauliches Sommerfest sowie verschiedene Stände mit Wollprodukten, Schafsmilch sowie einer Bude mit Hammelkeulen-Brötchen hinzu. Das Brötchen schmeckte ausgesprochen lecker, und ich erwarb im Anschluss noch ein zweites.
Die Schafe in meinen Gedanken sprangen inzwischen weitgehend automatisch, und auch das Zählen verlief jetzt ohne größere Anstrengung. Um aufkommender Langeweile entgegen zu wirken, fügte ich der Szenerie noch Zuschauerreihen, Preisrichter (sieben Mitglieder, Wertungen möglich von 1 bis 6 Punkten pro Sprung, in Zehntelschritten, die jeweils beste und schlechteste Wertung wurde gestrichen) und auch eine größere Schar von Vertretern der Medien hinzu. Sogar ein oder zwei Übertragungswagen privater Fernsehsender fanden sich ein.
Nach einem spannenden und insbesondere in den Semifinals hochdramatischem Wettkampf gewann das Gotlandschaft „Melusine“ vor dem Bock „Sir Albert Hickory III“ aufgrund des besseren Punkteergebnisses in der Vorrunde.
Ich öffnete die Augen blickte auf meine Uhr. Die Nacht war fast vorbei, und in wenigen Minuten würde mein Wecker klingeln. Keine Spur von Schlaf.
Ich verwarf frustriert die ganze Schafszene und schloss die Augen.
Sekunden später war ich eingeschlafen.

Die Wissenschaft ist auch nicht mehr das, was sie einmal war.
Der Beitrag wurde am Sonntag, 26. März 2017 veröffentlicht und wurde unter dem Topic Satiren - VORSICHT abgelegt.
'Meine VorSicht-Satiren - Schlaflos in Bad Kreuznach'

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