Der Kredit
von Klaus Marion.
Veröffentlicht in initiativ 1/2015

In Zeiten persönlicher monetärer Bedrängnis ist es für den Mitarbeiter eines Unternehmens ein immer möglicher, aber niemals einfacher Schritt, sich dem Chef des Betriebs anzuvertrauen und um eine diskrete Hilfe in Form eines Darlehens zu bitten. Doch durch die Entwicklungen der letzten Monate im Finanzsektor haben sich hier die Gepflogenheiten plötzlich gleichermaßen überraschend wie nachhaltig geändert…

Dem Chef fiel der Gesprächseinstieg seinem Mitarbeiter gegenüber sichtlich schwer. Nach dem Angebot von Kaffee und Gebäck und dem einleitenden philosophieren über die allgemeine europäische Wirtschaftslage, die Kriegsgefahr im Nahen Osten sowie die Tabellensituation von Borussia Dortmund kam das Gespräch nach vielem Räuspern, Hüsteln sowie leichten Zuckungen um das linke Auge auf den Kern des für den Mitarbeiter gleichermaßen überraschenden wie unerwarteten Gesprächs.
"Lieber Herr Schukowski, Sie als Mitarbeiter kennen mich ja schon seit Jahren als gewissenhaften und immer der Firma verpflichtetem Chef. Wenn Sie so zurückblicken, können Sie doch sicherlich bestätigen, dass mein Streben und Wirken immer nur dem Wohlergehen der Hellmayer & Sohn Metallteileproduktion GmbH gegolten hat."
"Nun…"
"Sehen Sie! Und ich glaube, dass diese langjährige Treue zu meinem, also geradezu unserem Unternehmen, es mir erlaubt, an Sie mit einer persönlichen, wie auch durchaus peinlichen Bitte heranzutreten: Nehmen Sie einen Kredit von mir!"
Der Mitarbeiter war sichtbar überrascht.
"Aber wieso? Ich benötige eigentlich kein Darlehen…"
"Lieber Herr Schukowski, das weiß ich doch, das weiß ich doch… Bitte verstehen Sie dies als einen Hilfeschrei: Es handelt sich dabei um eine echte Notlage für mich persönlich, für das Unternehmen. Ich schlafe schon nicht mehr…"
"Aber… Wieso wollen Sie mir denn einen Kredit geben?"
"Sehen Sie, seit einigen Wochen kann ich das Geld unserer Firma nur noch gegen Strafzinsen bei unserer Hausbank auf dem Konto lassen. Wir müssen Geld bezahlen, wenn die Einnahmen der Firma nicht sofort ausgegeben werden! Dabei sind die Margen in unserer Branche schon knapp genug. Das können wir uns nicht leisten! Daher dachte ich, sie könnten ihr Herz erweichen und Ihrem Chef in dieser persönlicher Katastrophe durch eine uneigennützige Tat unter die Arme greifen: Ich gebe Ihnen einen Kredit von 400.000,- Euro. Natürlich absolut zinsfrei! Und Sie zahlen ihn mir zurück, wenn die Firma das Geld wieder braucht. Es soll nicht Ihr Schaden sein! Für Ihre Kinder gibt es auch ein schönes Weihnachtsgeschenk!"
"Ich weiß nicht recht. Warum legen Sie das Geld nicht in den Tresor?"
"Ich bitte Sie! Damit wir überfallen werden? Was ist bei einem Brand? Einer Explosion? Geiselnahme? Das Geld ist ja nicht versichert. Und die Steuerbehörde habe ich dann auch auf dem Hals, wegen vermuteter Verlagerung von Geld ins Ausland per Bartransport. Nein, das geht nicht!"
"Und was soll ich damit?"
"Sehen Sie, für Sie ist das doch ganz einfach: Sie legen es auf Ihr Girokonto und lassen es da stehen. Für Privatleute soll es keine Strafzinsen auf Barbeträge geben. Sie lassen das Geld da liegen und zahlen bei Bedarf mir einfach zurück. Und allen ist geholfen!"
"Ehrlich gesagt, Herr Hellmayer, ich bin da schon etwas überrascht. Ich dachte immer, dass ich hier einen Chef habe, der solide wirtschaftet, der auch in Zukunft blickt und verantwortungsvoll handelt. Schließlich zeigt sich im privaten Charakter auch der Mensch der Arbeit. Also…"
"Bitte, Sie dürfen mich nicht hängen lassen! Ich weiß nicht mehr, was ich noch tun soll! Ihre Kollegen haben sich als hartherzig erwiesen, keiner wollte einen Kredit annehmen. Ich bin offen zu Ihnen: Natürlich mag es Fehler gegeben haben, aber wie konnte man solche eine Entwicklung der Anlagezinsen voraussehen? Strafzinsen auf Guthaben? Jetzt stehe ich vor Ihnen, und ich habe nur noch Sie als Hoffnung. Bitte, enttäuschen Sie mich nicht…
"Nun gut, ich sehe Ihre persönliche Notlage. Und auch wenn Sie eine gewisse Mitschuld tragen mögen, der wahre Christenmensch erweist sich im Umgang mit der Not eines anderen. Ich will nicht so sein. Sagen wir 200.000,- Euro. Aber nicht mehr! Und dabei muss es auch bleiben. Nicht, dass Sie in einem halben Jahr wieder hier stehen und mehr an mich überweisen wollen. Und ich erwarte mir eine regelmäßige Rücknahme des geliehenen Geldes. Und: lassen Sie sich das eine Lehre für die Zukunft sein!"
Dem Chef standen Tränen in den Augen.
"Herr Schukowski, ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll! Sie geben mir die Hoffnung zurück. Das werde ich Ihnen nie vergessen! Vielen, vielen Dank."
Der Beitrag wurde am Montag, 31. August 2015 veröffentlicht und wurde unter dem Topic Satiren - initiativ abgelegt.
'Meine Satire im Wirtschaftsmagazin INITIATIV 1/2015'

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