Bekannter - verzweifelt gesucht!
von Klaus Marion.
Veröffentlicht in VorSICHT 5/2014

"Hallo Klaus! Na, was machst Du denn hier?"
Ich drehe mich um. Eine männliche Gestalt mittleren Alters winkt unzweifelhaft in meine Richtung und grinst mir zu. Ich lächle freudig überrascht zurück.
"Das ist aber schön, dass wir uns mal wieder sehen! Und, wie geht's bei Dir?"
Und während mein Gegenüber mir die Hand schüttelt und zu einer längeren Erklärung der aktuellen Familienumstände anhebt, frage ich mich wie immer verzweifelt: Wer ist das bloß??


Die Natur ist in ihrer Verteilung manchmal ungerecht. Während mir ein durchaus nicht unscharfer Verstand gegeben wurde, und ich auch eine Befähigung für logisches Denken mein eigen nennen darf, ist bei mir von der Genetik bei der Option "Personenerkennung" und "Namensgedächtnis" das Häkchen vergessen worden. Wo andere Zeitgenossen locker jeden entfernten Bekannten auch noch nach Jahren selbst unter einer entstellenden Karnevalsperücke problemlos identifizieren, bin ich schon froh, wenn ich Personen in ihrer normalen Umgebung zuordnen kann. Wenn zumeist weibliche Mitmenschen über die Frage der Familienähnlichkeit eines Babys zum angeheirateten Onkel Dritten Grades philosophieren, wäre ich schon dankbar, wenn ich das Baby überhaupt eindeutig wiedererkennen würde.
Doch wenn die Person an überraschenden Orten oder zu ungewöhnlichen Zeiten mir ansichtig wird, kommt sie mir zwar meist irgendwie bekannt vor – doch wer ist das, verflixt noch mal?
Und wenn mir dann einfällt, dass das der freundliche Vorsitzende des Schachclubs gewesen ist, will mir aber der Name partout nicht einfallen. Maier? Müller? Irgendwas mit M. Oder P. Vielleicht auch Q.
Ich will jetzt nicht falsch verstanden werden: Natürlich erkenne ich meine Familie, die Verwandtschaft, Freunde und Arbeitskollegen. Logisch.
Doch im Lauf der Zeit begegnet man ja tausenden von Menschen. Ehemalige Schulkameraden, Eltern der Freunde der Kinder, Vereine, Elternbeiräte, Clubs, Lehrer, Straßennachbarn, Finanzsachbearbeiter, Kunden, Kollegen, Urlaubsbekanntschaften. Die Zahl steigt ins Unermessliche. Und man begegnet ihnen ja auch nicht jeden Tag.
Ganz offensichtlich scheint es dabei durchaus geschlechtsspezifische Unterschiede zu geben. Während meine Frau den entgegenkommenden Fremden sofort als den netten Vater der drittbesten Freundes unseres Sohnes in der Grundschule erkennt, kann ich dafür Modell und Ausstattungsmerkmal seines von ihm in der Hand gehaltenen Smartphones identifizieren. Doch auch unter Berücksichtigung einer gewissen männlichen Unterlegenheit in dieser sozialen Komponente des Lebens ist meine persönliche Befähigung in diesem Bereich deutlich unterentwickelt.
Man muss sich wirklich fragen, warum im brutalen steinzeitlichen Überlebenskampf eine solche schlechte Wiedererkennung nicht baldigst zum Aussterben meiner Vorfahren geführt hat. Eine provisorische Theorie von meiner Seite lautet dabei, dass dieser Mangel der Erkennungsfähigkeit für die anderen Mitglieder der Sippe noch tödlicher gewesen sein muss. Da liegen als mein Vorfahr und die anderen Steinzeitjäger in dem Jagdhinterhalt, und mein Urahn zischt dem Mitjäger zu:
"Du, da ist hinter Dir ein… was ist denn das? Ich komme nicht drauf…Ah, jetzt weiß ich's wieder, es ist ein… Wie heißen die noch mal? Du weißt schon: Fell, 4 Beine, Dings, äh, mit Zähnen. Großen Zähnen. Wie… AH! Säbelzahntiger heißen die! Ulf? Ulf??"

Nun, ich stehe also vor dem Anfangs erwähnten nicht unfreundlichen Mann, der sich gerade nach der Familie allgemein und dem Befinden der Gattin im speziellen erkundigt. Und ich habe keine Ahnung, wer das ist.
Ratgeber geben für solche Situationen immer den Tipp, dass man einfach ehrlich sein Nichtwissen gestehen soll: "Ich komme jetzt nicht drauf… Woher kennen wir uns?" Um dann mit einem Lachen die Situation entschärfen zu können.
Ich glaube nicht, dass die Autoren solcher nutzlosen Hinweise das Erkennungsproblem selber haben. Denn erstens kann man das ja nicht jedes Mal sagen, wenn man jemanden scheinbar Unbekannten trifft, und zweitens kann man über ein indigniertes "Ich bin der Vater der Freundin Ihres Sohnes. Wir haben uns doch erst letzte Woche getroffen!" nicht so einfach mit einem Scherz hinweggehen. Vor allem, wenn's schon das dritte Mal ist.
Nein, ich bevorzuge die Methode des vorsichtigen detektivischen Herantastens. Anhand des beginnenden Gespräches ergeben sich meist binnen kurzer Zeit klare Hinweise über die Herkunft des Gegenübers.
Sie erzählt über die Noten ihrer Tochter: Schule? Eltern? Ah, Ersatzmitglied im Schulelternbeirat!
Gespräche über das letzte Treffen: Bei wem waren denn zuletzt? Ah! Die netten Bekannten bei der Geburtstagsfeier der Freunde!
Also immer nett nicken, unbestimmte Einwürfe machen und scharf nachdenken. Und irgendwann macht es dann 'klick'.
Der Nachteil dieser Methode ist leider, dass es ab einem bestimmten Punkt kein vernünftiges Zurück mehr gibt. Nachdem man 5 Minuten über gemeinsame Erlebnisse geplaudert hat (mit wem waren wir denn gemeinsam an einem Badesee? Und wer ist 'Harry'??), ist es nur sehr schwierig möglich, ohne peinliche Katastrophe ein "Jetzt mal ehrlich: Wer bist Du eigentlich??" loszuwerden.
Da hilft dann nur, sich tapfer durchzuparlieren, einen plötzlichen Termin oder auch einen Herzanfall zu simulieren und danach schleunigst das Weite zu suchen.

Auch bei meinem Eingangs erwähnten Gesprächspartner auf dem Gang der Stadtverwaltung verlief es eher ungünstig. Nachdem wir uns also eine viertel Stunde angeregt unterhielten, ein Urlaubswochenende an der Nordsee für den Sommer vereinbart, als Taufpate in Erwägung gezogen wurde sowie ein gemeinsames Silvesterfest geplant haben, habe ich jetzt doch eine Frage:
Wer war das und wie heißt er? Mittelgroß, mittleres Alter, braune Haare. Recht kurz. Besuchte eine Behörde.
Kann mir bitte jemand weiterhelfen??
Hilfe!!!
Der Beitrag wurde am Mittwoch, 1. Oktober 2014 veröffentlicht und wurde unter dem Topic Satiren - VORSICHT abgelegt.
'Bekannter - verzweifelt gesucht! VorSicht-Satire 5/2014'

Teilen