Internet und die neue Ungleichheit

Zu den gängigen Klischees über das Internet gehört die von vielen geteilte Überzeugung, dass das Internet durch seinen schnellen Zugriff auf Wissen und Information zu einer größeren Chancengleichheit und zu einer gerechteren Gesellschaft führen wird.
Besonders gerne wird dabei auf die Demokratisierung des Wissens verwiesen, dass das Phänomen des "Herrschaftswissens" beseitigt und den ungerechten Wissensvorsprung bevorzugter Gruppen einebnet.
Diese Meinung ist weit verbreitet, und sie wird seltsamer Weise gar nicht hinterfragt.

Das ist umso interessanter, denn sie widerspricht diametral meiner von mir im Privat- wie Berufsleben gemachten Beobachtung:
Das Internet verbreitert in Wirklichkeit die Gräben zwischen den unterschiedlichen Schichten der Gesellschaft.

Ist das so? Ich glaube schon.

Ich - um das mal ganz deutlich zu sagen - gehöre zu den Gewinnern dieser Entwicklung. Ich arbeite in einem Beruf (ich leite eine IT-Abteilung), in dem ich sowohl die aktuellen Entwicklungen wie auch die verschiedenen gesellschaftlichen Trends im Auge zu halten habe, um sowohl technisch wie auch in der zukünftigen Vorhersage von Trends meinen Chefs die richtigen Ratschläge zu geben.
Wo ich vor 20 Jahren noch mühsam mir Bücher per Fernleihe bestellen oder für teures Geld kaufen musste, habe ich heute mit Wikipedia, mit Fachdiskussionsgruppen, mit kindle-Büchern und elektronischen Ausgaben von Zeitungen Werkzeuge in der Hand, mich in kürzester Zeit über Dinge zu informieren. Es gibt Situationen, wo ich während Verhandlungsgesprächen mit Anbietern auf meinem iPad oder meinem Smartphone mir unbekannte Software oder Dienste google, um nach einem kurzen Überfliegen der Informationen mit diesem neuen Wissen in den Gesprächen zu agieren. Wo ich früher Tage oder gar Wochen mit der Anfrage nach Informationen von Anbietern verbracht habe, kann ich mir inzwischen binnen Minuten einen Überblick verschaffen, kann in Foren die Meinung Dritter einholen, oder auf fremdsprachigen Seiten in aller Welt Fakten und Meinungen beschaffen.
Die Frage "Was halten Sie von dieser neuen Software?" eines Geschäftsführers bedeutete für mich früher ein arbeitsames Wochenende, heute kann ich schon manchmal während des Telefongesprächs eine durchaus erste korrekte und ausreichende Einschätzung abgeben.

Doch wenn das jeder kann, wo soll dann der Vorteil für mich persönlich liegen? Jeder hat doch den gleichen Zugriff zu diesen Resourcen! Müsste das nicht den Wissensvorsprung Einzelner nicht eher reduzieren?

Dabei wird jedoch vergessen, dass die Nutzung der Datenflut des Internets an persönliche Voraussetzungen gebunden ist, die eben nicht gleichmäßig verteilt sind. Ich möchte mal beispielhaft einige auflisten:

a) Schnelles Lesen
Wieso wird eigentlich so gerne vergessen, dass man die Informationen des Internets schlicht und ergreifend auch lesen muss? Wer schnell liest, ist automatisch im Vorteil. Und ich bin ein Schnellleser. Zuhause habe ich so etwa über 4.000 Bücher stehen (die letzte Zählung liegt schon etwas zurück), und ich lese ziemlich schnell. Unter diesen Umständen bringt mir der Zugriff auf das Internet und seine Quellen enorme Vorteile.
Wo ich früher eine Tageszeitung als Papier ins Haus bekommen habe, lese ich jetzt die Lokalzeitung (elektronische Ausgabe) auf dem iPad, meine Frankfurter in Papierform, sowie die London Times als aktuelle eBook-Ausgabe. Dazu noch eine Sonntagszeitung sowie ein wöchentliches Nachrichtenmagazin direkt auf meine Geräte. Das Schnelllesen ist dabei aber notwendige Voraussetzung.
Und das gilt natürlich auch für Handbücher, Literatur, Romane.
Früher war ich durch den fehlenden Zugriff einschränkt, jetzt kann ich durch das Internet mein Schnelllesen wirklich ausleben.

b) Kursorisches Durcharbeiten
Meist eng verbunden mit einer langjährigen Übung im Lesen ist die Fähigkeit des selektiven Überfliegens von Informationen. Die Qual des Internets ist oftmals die schiere Masse an Informationen. Ein umfassendes Durcharbeiten ist nur dann möglich, wenn man sich die Fähigkeit angeeignet hat, Texte zu überfliegen und trotzdem am Schluss einen Eindruck vom Inhalt zu haben.
Wer das nicht hat, wird mit dem Wust an Informationen aufgrund mangelnder Zeit nicht zurechtkommen.

c) Lesen in Fremdsprachen
Wer in der Lage ist, englische Texte fließend zu lesen, für den bietet das Internet einen Quantensprung an Informationsmengen. Schon allein das Wechseln von der deutschen zur englischen Wikipedia fördert in vielen Bereichen gänzlich neue und interessante Aspekte zu Tage, da sich die Versionen in ihren Inhalten und Schwerpunkten sich nur selten decken. Viele aktuelle Informationen werden heute nur noch auf Englisch veröffentlicht.

d) Solides Grundwissen
Die Behauptung, man müsse nichts wissen, sondern nur wissen, wo man es nachschlagen kann, ist völliger Unsinn. Das ist in etwa so, als ob man argumentieren würde, dass für das Anwenden einer fremden Sprache kein Vokabellernen notwendig ist - schließlich habe man ja ein Wörterbuch. Das mag sich ja in der Theorie sinnvoll anhören - doch es ist leider nicht praktikabel.
Was nützt mir der Zugriff auf umfassende Informationen (nehmen wir mal an, zum deutschen Wahlrecht), wenn ich jeden zweiten Fachbegriff erst nachschlagen muss, weil ich nicht weiß, was sich dahinter verbirgt? Und dieser Artikel dann wieder neue, unbekannte Begriffe enthält? Irgendwann gibt man entnervt auf. Und so wie ich in fremdsprachigen Texten nur dann vernünftig lesen kann, wenn die Zahl der unbekannten Wörter prozentual klein ist (weil ich dann deren Bedeutung aus dem Zusammenhang erfasse), so ist das auch mit im Internet bereitgestelltem Wissen: Ich brauche eine Basis, um die Informationen einordnen und verwenden zu können. Aber dann bietet es mir eine unermessliche Wissensquelle.

e) Netzwerke
Schon immer war es von Vorteil, wenn man im Beruf ein Netzwerk von Bekannten oder Freunden hatte, die man im Zweifelsfall etwas fragen konnte, was man sonst nur langwierig oder gegen teures Geld in Erfahrung bringen konnte.
Heutzutage ist es aber möglich, durch elektronische Netzwerke in beruflicher oder sozialer Art viel mehr Menschen an der Hand zu haben, die man im Zweifelsfall um eine Information bitten kann.
Wem diese "Netzwerkerei" nicht gegeben ist, der wird aber auch mit den im Internet angebotenen Möglichkeiten nichts anfangen können.

f) Abstraktes Denken
Wer mit Informationen und Wissen arbeiten will, der muss das Wissen in seinem Kopf strukturieren. Er muss die wichtigen Dinge extrahieren können, er muss Wichtiges von Unwichtigem trennen können, er muss erkennen, was Meinung und was Faktum ist.
Er muss das tun, was Leute (früher mit Büchern, heute mit dem Internet) schon immer getan haben: Das Wichtige herausziehen, um damit arbeiten zu können.

g) Mit elektronischen Werkzeugen umgehen
Nicht jedem ist es gegeben, intuitiv mit elektronischen Hilfsmitteln umzugehen. Doch das ist eine Voraussetzung, um das Internet als Quelle nutzen zu können. Ob es die Eingabe von RSS-Feed-Adressen ist, die Abfrage einer Datenbank mit einer SQL-Abfragesprache oder das virtuose Nutzen von Textverarbeitung, Tabellenkalkulation und Präsentationsprogramm: Wer sich damit nicht wohlfühlt, der hat gegen jeden, dem diese Werkzeuge tägliches Brot sind, schon verloren.

Natürlich hat das Internet vielen Leuten dazu verholfen, dass sie mit dem Zugang zum Internet mit ihren oben genannten Fähigkeiten in Bereichen Fuß fassen und erfolgreich sein konnten, die ihnen früher verwehrt waren. Das jedem zur Verfügung stehende Wissen ist sicherlich für jeden gewachsen.
Doch die Schere zwischen denen, die aufgrund bestimmter Voraussetzungen und Fähigkeiten das Internet als Werkzeug ihrer Fähigkeiten nutzen können, und denen, die dazu nicht fähig oder willens sind, wird immer größer.
Das Internet als Basis multipliziert den Abstand in unseren durch Begabung und Fähigkeiten vorgegebenen Besonderheiten.
Von einem Einebnen dieser Unterschiede in der Bevölkerung kann ich nichts entdecken.
Im Gegenteil dürfte es eine Herausforderung der Gesellschaftspolitik der Zukunft sein, wie hier ein Auseinandertriften der Gesellschaft verhindert werden kann.

Dass dies oftmals gerade von den Internetafinen, die dabei ja am meisten profitieren, besonders heftig bestritten wird, ist eigentlich das Ironischste an der Situation.
Der Beitrag wurde am Donnerstag, 24. April 2014 veröffentlicht und wurde unter dem Topic Klaus' Notizen abgelegt.
'Klaus' Notizen: Internet und die neue Ungleichheit'

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